Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
absurd, sagt er, es ist überhaupt nichts da.
Irene glaubt die Zwiebel gefunden zu haben. Die Zwiebel ist der alte Mann, Harker. Zum Totlachen!
Er kommt aus dem Keller. Hart wie ein Gürteltier, sagt sie. Erstaunlich für sein Alter. Sie stellt den Staubsauger ab. »Es ist wunderbar, Estelle«, schwärmt sie. »Ich hatte ganz vergessen, wie wunderbar das ist.«
Zum Totlachen!
Wenn das Sterben nur so leicht wäre. Wenn man einfach sagen könnte, gute Nacht, das war’s. Ich habe es einmal nachts versucht. Sonny lag, das Gesicht mir zugewandt, auf seiner Seite. Ich brachte mein Gesicht ganz dicht an seinen Mund und atmete seinen Atem, als wäre es Senfgas. Ich hatte nämlich oft gedacht, daß man vom Atem eines Menschen, den man nicht mehr liebt oder achtet, getötet werden kann. Das wird man auch wirklich, wenn auch langsam. So langsam, daß man meist gar nicht merkt, daß man stirbt.
Ich versuche Irene zu erzählen, daß ich früher sein Korallenohr liebkost habe, mit den Händen und dem Mund. Ich versuche sie in ihrer Zwiebelseligkeit daran zu erinnern, daß diese Dinge wie das Sonnenlicht sind und wieder schwinden. Es kann schon mittags geschehen, aber auch erst später. Und dann ist nicht mehr möglich, was vorher möglich war, und wird es auch nie wieder sein.
»Ich kenne niemanden, der so viele Schlechtwettervorhersagen macht wie du, Estelle.«
Und ich entgegne, Irene, wart’s ab. Du wirst schon sehen,daß es plötzlich von einer Sekunde zur andern nicht mehr geht. Du wirst es sehen. Vielleicht stehst du gerade im Unterrock auf der Treppe, vielleicht bist du auch woanders, liegst im Dunkeln. Man weiß nicht im voraus, wo und wann es geschieht. Erst danach kann man für immer sagen, damals war es, das war der Augenblick.
»Ich fühle mich jetzt wieder lebendig«, meint sie, »das ist der springende Punkt.«
»Ja, das ist er«, sage ich und lache.
Doch sie hat recht, das ist es, wonach wir suchen. Trotz allem, was dagegen spricht. Es ist eine verzweifelte Suche. Man greift nach jedem alten Stück, selbst nach einem Kricketschläger. Gott muß auf den Oberschenkeln blaue Flecken und Striemen vom vielen Draufschlagen vor Lachen haben. Ihm tun sicher die Rippen weh. Meine Mutter fand das Leben in einem stillen Flugzeug, das von Luftströmungen hochgehalten wurde. Was wir uns alles einfallen lassen! Sie suchte in ihrem Haus danach, am Klavier, vor dem Spiegel, im Bett meines Vaters, doch nicht eine Spur davon ist geblieben. Sie sagte: »Wir streben nicht nur danach, lebendig zu sein. Wir wollen die Erfahrung , lebendig zu sein.«
»Du bist alles für mich, Estelle«, sagt Sonny auch jetzt noch manchmal. Das sind die Augenblicke, in denen ich spüre, daß mich sein Atem tötet. Man kann nicht alles für jemanden sein und trotzdem überleben. Ich gehe dann an meine Nähmaschine. Für mich ist sie etwas Vollkommenes, entworfen von jemandem, der sich nicht selbst etwas vormachte. Ihr Handrad glänzt vom vielen Anfassen. Ich lasse mein Haar darüber fallen, um Sonny nicht sehen zu müssen. Mary kommt herein und starrt mich an. Ihr Starren verändert sich. Es wird immer härter. Denn sie ist es, die er bestraft. Man kann nicht jemanden strafen, der alles für einen ist; man straft statt dessen jemand anderen. Und so bedeutet ihr Starren: Tut es dir denn nicht einmal leid? Schämst du dich nicht? Und ich gehe ihr immer mehr aus dem Weg. Ich lasse sie zu Irene oder wohin sonst sie gehen muß, um zu überleben. Ich schaue nicht hin.Manchmal verlasse ich das Haus und tue so, als wäre es für immer. Ich nehme einen leeren Eimer mit, als wäre er ein Koffer, vollgepackt mit allem, was ich brauche.
Ich laufe zum Fluß hinunter. Ich rekonstruiere, was Vergangenheit ist: Ursache und Wirkung. Die Ursache: so rasch und töricht; die Wirkung: so endlos.
Ich kam in einem ordentlichen Dorf zur Welt. Zäune um alles; von Kletterrosen überwucherte Vordächer; eine Feuersteinkirche. Als ich noch ein Kind war, spielte meine Mutter in der Kirche Orgel. Eine Organistin war in der damaligen Zeit etwas Ungewöhnliches.
Ich begegnete Sonny in der Kirche. Er starrte mich wochenlang an, ohne auch nur ein Wort zu sagen. In der Hand hielt er seine Mütze. Er benahm sich wie jemand, der Schlange steht, bis er an die Reihe kommt. Vor dem Krieg war ich schon einmal verlobt gewesen, mit einem jungen Mann, der Starren für ungehörig und gewöhnlich hielt. Er war Naturforscher gewesen und hatte grünen Cordsamt und gelben Kaschmir
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