Die Verwandlung der Mary Ward - Roman
auch, einen Schaden davongetragen, als er im Krieg in Deutschland das halbe Ohr verlor. »Im Grunde seines Herzens«, sagte sie, »ist er ein guter Mann.«
»Er ist gut zu Timmy«, erwiderte ich. »Das ist alles.«
»Soll ich Pearl nehmen«, fragte sie, »während du deinen Tee trinkst?«
»Nein. Bitte nicht. Wir müssen mit der Strickliesel weitermachen.«
Pearls Zimmer war sehr klein. Mein Bett bestand aus drei Sofakissen, die Irene neben das alte Kinderbett gelegt hatte, in dem Pearl schlief. Sie gab mir noch ein grünes Federbett zumZudecken und ein richtiges Kopfkissen. Mein Abendessen bestand aus einem Marmeladebrot.
Ich hatte eine Art Wachtraum, in dem mein Vater mit dem Pony und dem Wagen kam und mich durch die Kälte der Nacht mit nach Hause nahm. Ich lauschte die ganze Zeit auf die Wagenräder, doch das spielte sich nur in meiner Phantasie und nicht in Wirklichkeit ab.
Mir gefiel es dort auf dem Boden. Ich wünschte, lange bleiben zu können und nicht nach Hause gehen zu müssen. Damit Pearl sich hinlegte, still war und einschlief, erzählte ich ihr eine Geschichte über Joseph Montgolfier, Frankreich, 1782, Erfinder des Heißluftballons. In dieser flog Montgolfier mit seinem Ballon auf der Suche nach dem Universum am Himmel herum, fand es jedoch nie, da sein Ballon so schnell wie die Sonne war. Statt dessen kam er nach Australien und beschloß, dort zu bleiben. Als er in seiner ersten Nacht im australischen Dschungel, umgeben von Papageien und Känguruhs, die alle in einer Sprache schnatterten und plapperten, die er nicht verstand, zum Himmel blickte, sah er es dort, das Universum. Und er dachte: Ach, zum Kuckuck, o verflixt, es ist zu weit weg. Ich bleibe doch lieber in Australien. Vieles in dieser Geschichte konnte Pearl nicht verstehen, doch sie schlief darüber ein, und das hatte ich ja bezweckt. Sie sollte einschlafen und schnarchen, so daß ich einfach daliegen und ihr zuhören konnte, wie man der Meeresbrandung lauscht und an nichts anderes denkt.
Am nächsten Morgen erzählte mir Irene, daß Mr. Harker sie rausgeworfen habe und nach Frankreich gereist sei. Sie meinte: »Ich weiß auch nicht, warum ich dir das erzähle, Mary.«
Ich sagte, ich würde Pearl mit in die Schule nehmen. Sie könnte sich unter Miss McRaes Pult mit ihrer Strickliesel beschäftigen. Und sie könnte sich um unsere Seidenraupen kümmern.
Irene erwiderte, daß Miss McRae das niemals erlauben würde, doch ich erklärte: »Miss McRae sieht zwar wie eine Tanne aus, innen drin ist sie aber nett.«
Irene hörte nicht auf, den Kopf zu schütteln und nein, nein, nein zu sagen, also verriet ich ihr etwas, was ich meiner Mutter oder meinem Vater nie verraten hatte, nämlich daß ich Miss McRaes beste Schülerin war, meine Wolkenbilder an der Wand hingen, an meinem Namen auf der Bestenliste dreizehn Sternchen klebten und ich überhaupt keine Freunde hatte. »Nun ja«, meinte da Irene, »es wäre ja nur am Vormittag...« So nahm ich vom nächsten Tag an Pearl mit in die Schule, und Irene ging zu Mr. Harkers Haus, um alles für seine Rückkehr aus Frankreich auf Hochglanz zu bringen. Ich sagte zu Miss McRae, daß es eine vorübergehende Regelung sei, daß Pearl ja Seidenraupenbeauftragte sein könne und daß ich, wenn sie nicht bleiben dürfe, nicht zur Schule kommen könne. Sie schüttelte, wie schon Irene, den Kopf, von einer Seite zur anderen, so daß dünne Haarnadeln aus ihrem grauen Knoten fielen. Doch dann fand sie ein kleines Pult und einen passenden Stuhl, stellte beides neben sich und setzte Pearl dorthin.
»Du hast Glück, Mary«, sagte sie, »daß ich in einem Leuchtturm zur Welt gekommen bin. Sonst wäre ich ein anderer Mensch.«
Ich blieb eine Woche bei Irene. Mein Vater kam einmal, während ich in der Schule war, sagte zu Irene, daß es wohl so am besten sei, und gab ihr zehn Shilling für mein Essen.
Ich würde mich in meinem späteren Leben noch manchmal an meine Woche bei Irene erinnern, als ich Marguerites Namen nicht über die Lippen brachte.
Ich erinnere mich noch daran, wie sich mein Körper anfühlte, als er versuchte, sich zwischen den Sofakissen und dem grünen Federbett eine Männerhaut zuzulegen.
Ich erinnere mich noch, wie sehr Pearl die Seidenraupen liebte.
Ich erinnere mich an die Marmeladenbrote.
Und ich erinnere mich daran, wie Irene in der Schlafzimmertür stand und sagte: »Gute Nacht, meine Täubchen! Träumt schön von Prinzen!«
3. Kapitel
1955
»Der letzte Loomis«
Jodeln zu lernen
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