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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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und steckte sie in einen Sack, den er mit einer Kordel, die er für die Strohballen hatte, zuband.
    Er sagte, sie sei verhext. Er sagte, ich hätte mit meiner Eifersucht aus einem an sich sanftmütigen Vogel einen gefährlichen gemacht. Gott würde mich auf eine Art und Weise bestrafen, wie ich es mir gar nicht vorstellen könne.
    Gott bestrafte mich bereits auf eine Art und Weise, die ich mir vorstellen konnte, denn mein Vater brachte Marguerite zu den Loomis, wo sie geschlachtet und für irgendein Mahl gerupft werden sollte.
    Er wollte, daß ich weinte. Wenn er taub vor Wut wurde, konnte ihm das sein Gehör zurückbringen.
    Ich weigerte mich aber, ihm sein Gehör zurückzubringen. Ich aß zu Abend, ging dann in den Hof und erbrach mein Essen wieder. Meine Mutter beobachtete mich durchs Küchenfenster. Sie machte einen zerrissenen Eindruck. Sie hatte an diesem Morgen mit einer Patchworkarbeit angefangen, und überall auf ihrem Nähtisch waren Pappschablonen und Stücke alter Vorhänge. Ich dachte, daß sie selbst bald zusammengeflickt werden müßte.
    Ich wandte dem Hof, meinem Erbrochenen und dem Anblick meiner Mutter den Rücken zu und machte mich auf den Weg nach Swaithey. Ich wagte nicht, an Marguerite zu denken, an ihre verhutzelten Beine und gesprenkelten Seiten. Ichließ sie Vergangenheit werden. Ein Teil der Vergangenheit ist sichtbar und ein Teil nicht, und ich hoffte, daß der Teil mit Marguerite für immer im verborgenen bleiben würde. Doch was das Leid betraf, dachte ich: Wenn ich nur stark genug leide, bekomme ich eine Männerhaut. Und wenn ich leide und mich weigere zu weinen, wird mir aus all dem, was ich innerlich verschlossen halte, ein Penis erwachsen. Das brauchte nur seine Zeit.
    Nach dem strahlenden, wolkenlosen Tag wurde es nun eiskalt. Ich sah die Sonne hinter dem Turm der Kirche von Swaithey untergehen. Sie glitt rasch weg und machte kampflos der Dunkelheit Platz. Miss McRae hatte uns im Erdkundeunterricht erzählt, daß in Australien Tag war, wenn wir Nacht hatten. Australien hat auf der Landkarte zwei Spitzen, die aussehen wie Berge, und als ich nach Swaithey stapfte, stellte ich mir vor, wie die Sonne dort ankam und die Bären in den Gummibäumen blinzelten, als sie davon geweckt wurden.
    Ich war auf dem Weg zu Irene. Ich wollte, daß sie mich in meiner selbstgewählten Zuflucht versteckte. Ich hoffte, Pearl würde noch wach und vielleicht mit einem Puzzle beschäftigt sein. Und ich hoffte, daß Irene auch ohne Erklärungen wußte, warum ich gekommen war.
    Ich würde das Wort Marguerite nicht über die Lippen bringen.
    Es schien schon Nacht zu sein, als ich dort ankam. Über mir standen die Sterne. Mir fiel ein, wie Miss McRae einmal gesagt hatte: »Das nennen wir das Universum, Kinder«, doch ich hatte immer noch nicht verstanden, ob das Universum am Tage ganz und gar verschwand oder uns nur verließ und wie ein Luftschiff nach Australien schwebte. Meine Mutter konnte die Sterne nicht betrachten. Sie mußte dann daran denken, wie sie als Mädchen im Bett gelegen hatte.
    In Irenes Flur brannte Licht. Als ich klopfte, hörte ich Pearl zum Briefkastenschlitz laufen und versuchen, ihn zu öffnen und hinauszuschauen. Nicht viele Leute kamen zu ihnen zu Besuch, wie meine Mutter sagte. Die Leute in Swaithey brachten es nicht über sich, Mitgefühl zu zeigen. Nur Mr. Harker.
    Irene ging mit mir in die Küche. Ich nahm Pearl auf den Schoß und half ihr mit der Strickliesel. Sie verwendete gelbe und rosa Wolle, und in der kleinen, sich schlängelnden Baumwollröhre waren ziemlich viele Löcher, weil Maschen von den Nägeln gefallen waren.
    Irene wartete. Sie goß mir eine Tasse Tee ein und legte mir einen Pfannkuchen auf den Teller. Sie versuchte mich zum Reden zu bringen, wie jemand versuchen würde, einen Bären aus einem Gummibaum zu locken.
    Nachdem ich lange Zeit nicht mit der Sprache herausgerückt war, meinte sie, daß sie mir jetzt in Pearls Zimmer auf dem Boden mein Bett machen würde. Ich sagte mit klarer Stimme: »Danke, Irene«, und als sie dann wieder herunterkam, erzählte ich hastig, um es schnell hinter mich zu bringen, daß mein Vogel auf Timmy losgegangen sei und jetzt in einem Sack auf sein Ende warte. Ich weinte nicht. Mir war nur eiskalt. Ich klammerte mich an Pearl, um mich zu wärmen.
    Irene kam zu mir herüber, kauerte neben meinem Stuhl nieder und strich mir übers Haar.
    Sie sagte, mein Vater könne nichts für seine Wutausbrüche. Er habe, wie Tausende anderer Männer

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