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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ruhige Stimme und flinke Hände. Außerdem war er fleißig, ordentlich und sauber. Er stand jeden Morgen um fünf auf, brachte seiner Frau Grace eine Tasse Tee ans Bett und küßte sie auf die schlaffeuchte Stirn. Um sechs war er dann am Hackklotz, und um acht ging der Rolladen seines Geschäfts hoch. Den ganzen Tag über, während Ernie zwischen dem Hackklotz und der Ladentheke hin und her lief, saß Grace mit ihrer Registrierkasse und ihren Geschäftsbüchern in einer kleinen Kabine. Wenn niemand im Laden war, unterhielt sich Ernie mit ihr durch die Scheibe.
    Ernie und Grace hatten ein Kind, Walter. Jetzt mit sechzehn ähnelte er Pete mehr als Ernie. Er sah verträumt aus, hatte das gleiche dichte schwarze Haar wie Pete und eine frische Gesichtsfarbe. Seine Rechtschreibung war schwach und seine Schrift schwerfällig. Als Kind war er viel zu schnell gewachsen, und das Wachsen hatte ihm in allen Knochen Schmerzen bereitet. Doch nun hatte es aufgehört. Er hoffte nur, daß nicht noch ein weiterer Schub kam. Seine Gliedmaßen konnten sich endlich entspannen und auf das Leben vorbereiten.
    In dieser Zeit, als er nicht mehr völlig von seinen Schmerzen in Anspruch genommen wurde, bemerkte er, daß er eine recht hübsche Stimme hatte. Sie war sogar so eigentümlich hübsch, daß sie, wie er meinte, eigentlich gar nicht die seine sein konnte. Er sang bei der Arbeit – manchmal half er seinen Eltern im Laden, doch häufiger mistete er die Schweineställe aus, fütterte die Hühner oder ging Pete im Hof zur Hand. Er kannte nicht viele Liedtexte, nur die, mit denen er aufgewachsen war, alte sentimentale Balladen wie The Minstrel Boy und Barbara Allen sowie einige der Kriegsschlager, die seine Mutter so liebte, wie Ida, Sweet as Apple Cider , Love is the Sweetest Thing und When They Sound the Last All-Clear .
    Sein Onkel Pete brachte ihm das Banjospiel bei. Daraufhin saßen sie in Petes Bus und zupften einfache Akkorde. Wenn dann Walter sang, wandten sie beide den Kopf zum Knopfbitte-einmal-drücken -Schild, als käme das Lied von dort. Manchmal wurde es über ihren Banjo-Sitzungen dunkel und kalt, und die weidenden Färsen drängten sich Flanke an Flanke um den alten Obus, angezogen von dem bläulichen Licht der Petroleumlampe und der Melodie.
    Es fiel Walter leicht, sich voll und ganz auf eine Sache zu konzentrieren. Und wenn er sich einmal einer Sache widmete, dann ließ er sich nicht mehr davon abbringen. In ihrer Verzweiflung über seine hoffnungslosen Schulleistungen und Wachstumsbeschwerden trösteten sich Ernie und Grace mit dieser Hingabefähigkeit. Jeden Abend, bevor er in sein Zimmer ging, ließ er sich von seiner Mutter umarmen und von seinem Vater kameradschaftlich auf die Schulter klopfen. Er sagte zu ihnen, er sei stolz, daß der Name Loomis im halben Lande bekannt war und daß er den Laden eines Tages übernehmen würde. Doch im stillen fiel es ihm schwer, sich das vorzustellen. Er konnte weder so geschickt mit dem Messer umgehen wie sein Vater, noch hatte er einen Kopf für Zahlen wie seine Mutter. Am wohlsten fühlte er sich draußen. »Du und ich«, sagte Pete eines Abends im Bus zu ihm, »wir sind Hillbillies , Hinterwäldler.« Und Walter grinste. Ihm gefiel das Wort.
    In einer Sommernacht, in der es heftig regnete, betrank sich Pete mit Whisky. Er lag auf dem Boden des Busses, den Kopf an einen Stuhl gelehnt. Sein schielendes Auge schweifte auf der Suche nach einer Erinnerung umher. Er begann von Memphis zu erzählen. »Achtunddreißig war ich in Memphis Gärtner. Kirchengärtner.«
    »Was ist denn das, ein Kirchengärtner?« fragte Walter.
    »Gärtner einer Kirche. In diesem Fall von Baptisten. Mit drei Wiesen, zwei Beeten einjähriger Pflanzen und einer Menge Rosen. Und aus der Kirche kam Musik.«
    »Was für Musik?«
    »Gospels. Herrlicher Klang, Junge. Hat mir immer Schauer über den Rücken gejagt.«
    Er erzählte Walter, daß er Memphis niemals verlassen hätte, wenn dort nicht etwas vorgefallen wäre. Er sagte, daß man in Tennessee meistens glücklich war, trotz der Wirtschaftskrise und schlechten Zeiten. Dort waren die Neger treu. Und die Hunde waren treu. Sogar auf die Jahreszeiten konnte man sich verlassen. An nur einem Nachmittag wurde es Frühling. Der Winter brach mit einem Schneesturm herein. »Und im Herbst, Walter, da liegt man da und träumt, und aus dieser Träumerei heraus entsteht die Musik.«
    Er ließ Walter aus seiner Sammlung 78er-Schallplatten in braunen Papierhüllen, die er in

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