Die Verwöhnungsfalle - für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit
erhalten?
In der Sprache der IP geht es bei diesen Überlegungen zu Sein und Sollen um die Auseinandersetzung mit ›Minderwertigkeit‹ und den erkennbaren Möglichkeiten zu deren ›Kompensation‹: Der Einzelne steht somit vor der Aufgabe, sich seiner persönlichen Anlagen und Begabungen bewusst zu werden, um sie dann optimal in eine Gemeinschaft einzubringen. Nur so kann der Angst vor fehlender Dazugehörigkeit, die sich in Einsamkeit, Nichtgenügen, Verlassenwerden und Anerkennungsverlust äußert, begegnet werden. Denn keinen Platz in der Gemeinschaft zu finden ist gleichbedeutend mit seelischem Sterben.
Nicht selten schießen Menschen beim Ausgleich von Mängeln weit über das Ziel hinaus. Dies mag zwar verständlich sein, schadet aber der eigentlichen Absicht, da das persönliche Umfeld auf ›Überkompensation‹ allergisch bis ablehnend reagiert. Je stärker objektive – oder subjektiv erlebte – Defizite im Person-Sein erkannt werden, desto umfangreicher sind Korrekturen notwendig. Dabei erhält das Ermutigen eine zentrale Bedeutung, weil es eine Reduzierung des Angstbereichs ermöglicht. Die damit einhergehende Entlastung wiederum erweitert bisherige persönliche Grenzen und eröffnet neue Verhaltensweisen. Der individuelle Umgang mit Unsicherheiten oder Widerständen und die damit verbundenen Erfolge oder Misserfolge werden von Geburt an als Erfahrung gespeichert. Diese Datenbasis dient bei jeder neuen Situation als Orientierungs- und Entscheidungsgrundlage. So entwickelt sich von Lebensjahr zu Lebensjahr immer deutlicher werdend eine ganz persönliche Leitlinie, die Adler »Lebensstil« nennt. Durch ihn wird ausgedrückt, ob Tatkraft oder Laschheit, Offenheit oder Verschlossenheit im Umgang mit Menschen oder Dingen bestimmend sind: Werden Konflikte oder schwierige Aufgaben als Herausforderungen aufgegriffen oder steht Wegtauchen an? Wird dem Einzelnen dieser Lebensstil durch eine Analyse erkennbar, vermittelt er wertvolle Anhaltspunkte für zukünftiges Handeln.
Diese IP-Erkenntnis steht in direkter Korrespondenz zur Alltagsbeobachtung, dass Menschen sich in neuen Situationen meist so verhalten, wie sie es immer schon taten: scheu oder mutig, interessiert oder desinteressiert, hoffend oder resigniert, beitragend oder verweigernd. Diese Ausführungen stützen den IP-Grundsatz, dass Menschen ganz gezielt das anstreben und aufgreifen, was ihnen mit größter Sicherheit gelingen wird. Dies kann der Erfolg, aber auch der Misserfolg sein. Dieser Denkansatz wird von Adler mit dem Leitsatz »Wenn du wissen willst, was du wirklich willst, dann schau, was du tust« trefflich auf den Punkt gebracht.
Alfred Adler fasst alle diese teleologischen Bestrebungen des Menschen im Begriff der »Finalität« zusammen. Nicht kausales Betrachten, die Ergründung des ›Warum?‹, sondern finales Denken, die Frage des ›Wozu?‹, steht im Zentrum individualpsychologischer Erörterungen. Damit grenzte sich Adler stark von Freud ab, der innerhalb seiner Triebtheorien den Menschen als ein von unpersönlichen Mächten schicksalhaft getriebenes Wesen beschrieb. Adlers anderes Menschenbild drückte sich auch in dem von Nietzsche übernommenen Freiheitsbegriff »Nur im Schaffen gibt es Freiheit« aus.
Auf die hier erörterte Fragestellung bezogen heißt das: Immer dann, wenn Kinder oder Erwachsene nicht entsprechend gefördert werden, einen angemessenen Platz in der Gemeinschaft einnehmen zu können, findet Verwöhnung statt. Nach Adler sind Verwöhnung und Vernachlässigung die größten »Bürden in der Kindheit«. Denn ein fehlendes Herausfordern der Fähigkeiten des Einzelnen führt dazu, dass Menschen einen Platz in der Gemeinschaft zulasten anderer einzunehmen suchen.
Wird der Einzelne durch Umstände oder andere Menschen dazu aufgefordert, stärker die Verantwortung für das eigene Leben tragen zu sollen, wird in der Regel das von Adler als »Ja-Aber« bezeichnete Grundmuster neurotischen Reagierens deutlich. Scheinbar wird eine Aufgabe akzeptiert und aufgegriffen, gleichzeitig aber für unlösbar erklärt. Eine typische Redewendung hierfür: »Grundsätzlich betrachte ich dies ja als möglich, aber bei diesen Rahmenbedingungen kann es nicht gelingen.« Ein klares ›Ja‹ ist am unmissverständlichsten daran zu erkennen, dass es nicht als Wort, sondern als Tat deutlich wird.
Verwöhnte Menschen sind Meister der Inszenierung von Hilflosigkeit, bis hin zur Panikmache, um so Zuwendung durch Unterstützung zu erlangen.
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