Die Verwöhnungsfalle - für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit
Hausaufgaben nicht!«
Eine Frau, ca. 40 Jahre alt, meldete sich innerhalb eines Elternseminars: »Herr Wunsch, meinen Sie, dass ich meinem Sohn zu viel bei den Hausaufgaben helfe? Jeden Mittag das gleiche Szenario: ›Mama, der Lehrer ist doof, der hat die Hausaufgaben nicht richtig erklärt. Das kann ich nicht.‹ Seine Augen richten sich dann erwartungsvoll auf mich.« Viele im Saal schienen das Problem sehr gut zu kennen. Nun sollte ich also aus dem Stand heraus eine Lösung einbringen. Meine erste Frage war: »Wie alt ist Ihr Sohn?« – »Neun Jahre.« Dann die zweite Frage: »Was sind Sie von Beruf?« Mit leichtem Zögern kam als Antwort: »Lehrerin.« Ein Raunen und Lächeln wurde bei den gut 200 Teilnehmern deutlich, was die Fragerin nicht gerade zu erfreuen schien. Meine – leicht schmunzelnd geäußerte – Spontan-Antwort: »Auf diesem Hintergrund kommt mir als Erstes in den Sinn, ein Zuviel an Hilfe zu vermuten. Näheres kann ich aber erst beim Vorliegen differenzierter Anhaltspunkte sagen.« Ich gab noch ein paar Hinweise, wie die Situation verändert werden könnte, indem sie vermitteln sollte, dass ihr Sohn entsprechend nachhaken müsse, wenn er in der Schule etwas nicht mitbekommt. Aber ihr leicht säuerlicher Blick sagte: ›So nicht!‹ Weitere Informationen wurden nicht erwünscht. Ich gab noch den Hinweis, nach dem Vortrag zur Entwicklung eines speziellen Handlungsansatzes zur Verfügung zu stehen. Wie üblich kamen einige Eltern mit ihren je eigenen Fragen, die besagte Lehrerin war nicht dabei.
Wie es der Zufall wollte, begegnete ich dieser Frau einige Wochen später und sprach sie an. Sie blieb etwas irritiert stehen und sagte dann: »Herr Wunsch, Ihre Botschaft nagte kräftig an mir. Aber nun hat es geklappt. Vorher war aber noch eine Begebenheit in meiner Klasse sehr wichtig. Denn oft habe ich im Unterricht bemerkt, dass ich eigentlich auf Fehlverhalten der SchülerInnen reagieren müsste, um nicht der Verwöhnung freie Fahrt einzuräumen. Aber meist hat mich das Bestreben gehindert, nicht als strenge oder zickige Lehrerin eingestuft werden zu wollen. Dann aber sah ich einige Minuten vor der Pause in einer 7. Klasse, wie ein Schüler eine Cola-Flasche aus dem Ranzen zog, um aus dieser zu trinken. Mir schoss sofort in den Kopf, wenn ich dies zulasse, verwöhne ich durch ein Übergehen von Regeln. Wenn ich klassisch mit ›Das ist nicht gestattet, ein Verstoß gegen die Schulordnung‹ reagiere, bin ich keine nette Lehrerin. Aber Herr Wunsch, Sie saßen mir so im Genick, dass ich reagieren musste. Und dann kam ein Satz über meine Lippen, den ich noch nie formuliert hatte. Ich sagte zu dem Schüler: ›Ich traue dir zu, dass du nicht verdurstet, wenn du bis zur Pause wartest.‹ Auch wenn ich meinen Augen nicht recht traute: Wie ferngesteuert ging seine Hand nach unten und die Flasche verschwand in der Tasche.«
»Ich traue dir zu, dass du nicht verdurstet, wenn du bis zur Pause wartest.«
»Ob Sie es glauben oder nicht, diese Erfahrung gab mir so viel Mut, mich mittags meinem Sohn zu stellen, wenn er – wie seit Monaten – den Satz von sich gab: ›Mama, der Lehrer ist doof und hat mir die Hausaufgaben nicht richtig erklärt, du musst mir helfen.‹ Da ich Sorge hatte, meinem Sohn trotz meines Vorsatzes erneut auf den Leim zu gehen, hatte ich mir das Bügelbrett in den Flur gestellt, um etwas zu haben, an dem ich mich festhalten konnte. Gerade hatte ich alles hergerichtet, da kam auch schon sein Standardsatz. Ich reagierte durch Überhören und bügelte irgendwas, um mich abzulenken. Mein Sohn war sichtlich irritiert. Aber ich hatte den ganz starken Willen, diesen ›Plärren-Helfen-Automatismus‹ zu beenden. Der Satz kam erneut, etwas lauter und gereizter. Schließlich hatte er ja bisher erfolgreich gewirkt. Ich blieb ganz ruhig und bügelte weiter. Dann kam der dritte – recht barsch-fordernd geäußerte – Anlauf. Darauf sagte ich ihm: ›Dann hast du ja ein Problem.‹ Der Gesichtsausdruck signalisierte Irritation pur. Soll etwa ein lange eingespieltes Miteinander nicht mehr funktionieren? ›Aber Mama, ich kann es wirklich nicht.‹« Darauf brachte die Mutter ein: »Da ich nicht mit dir in der Schule war, gibt es nur zwei Lösungsmöglichkeiten, um Klarheit zur Aufgabenstellung zu erhalten. Entweder rufst du den Lehrer an und sagst ihm, dass er doof sei und die Hausaufgaben nicht richtig erläutert hätte, oder du rufst bei einem Mitschüler an und fragst bei diesem nach. Und
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