Die verzauberten Frauen
Berg, der niedrige Himmel wie ein Deckel darauf, hier wohnten nur Engel und Geister, wie Großvater versicherte. Und oben thronte die geheimnisvolle Frau mit der Sieben, die sie von dem Dichter hatte.
Martin rannte voraus. Dann hörte er, wie Vater etwas erklärte. Er rannte zurück. Das Rheintal unter ihnen begann zu raunen, und Martin erblickte ganz weit unten, auf dem schmalen, hellen Band, eine Reihe von Lastkähnen. Sie glitten nacheinander in einer Richtung dahin, als hielten sie sich an den Schwänzen fest. Er hatte in den Sommerferien im Zirkus so etwas gesehen, Ponys, die sich mit ihren Zähnen an den Schwänzen hielten und in der Manege herumliefen, bis eine Peitsche knallte.
Er hörte das Tuten eines Kahns. Martin rief hinunter und winkte. Das Echo warf seinen Ruf dreifach durch den Abgrund. Es hörte sich toll an und er wiederholte es. Als er wieder in die Höhe blickte, sah er die versteinerte Frau.
Die Stimme seines Vaters erklärte: »… das hat die Loreley getan. Es ist ein Gedicht. Ein Lied gibt es auch. Aber das ist von einem anderen. Im Rheingau kennt das jedes Kind.«
Sie erreichten die höchste Plattform. Martin schwindelte es. Wer diesen Berg hinabkollerte, der kam unten bestimmt nicht heil an. Er wollte es gar nicht erst versuchen. Und die versteinerte Frau? Sie standen jetzt so dicht vor ihr, dass Martin die Träne in ihrem linken Auge sah.
»Hör mal, mein Junge«, sagte der Großvater. »Jetzt kannst du uns das Gedicht aufsagen, die Loreley wird sich freuen.«
»Damit kannst du dir die beiden Ferientage in Eltville verdienen«, erklärte der Vater.
»Aber Vorsicht! Die Frau ist verzaubert. Man muss es können, sie mag nicht alles.«
Martin versuchte, sich zu konzentrieren, und es gelang ihm, das Gereimte aus dem Märchen wiederzugeben. Jedenfalls mit Pausen. Am Ende lächelte sogar der Vater. Großvater hielt ihm auf der flachen Hand einen Himbeerdrops hin und Martin steckte ihn schnell in den Mund.
Der Vater sagte: »Hier hat es mal einen scheußlichen Mord gegeben. Gerade da, wo du stehst, Martin. Das muss damals ein Schock für die ganze Region gewesen sein. Die Leute wollten nicht glauben, dass so was ausgerechnet am schönen Rhein passieren kann.«
»Davon weiß ich nichts«, brummte der Großvater.
»Es ist natürlich schon lange her, selbst noch vor deiner Zeit«, sagte der Vater. »Es erregte sogar bei Napoleon Aufsehen, der damals hier das Sagen hatte. Die Behörden haben es lange untersucht und mussten den Fall schließlich zu den Akten legen.«
»Wer hat wen ermordet?«, fragte Martin.
»Das weiß keiner«, erwiderte sein Vater. »Es kamen jedenfalls vier Menschen zu Tode. Drei Männer und eine Frau. Es hieß, die Frau hat sich am Ende selbst umgebracht.«
Martin verstand nicht. »Warum denn?«
»Du kannst fragen! Jedenfalls fand man sie zerschmettert am Fuß dieses Felsens. Die anderen drei – na ja, eine scheußliche Geschichte.«
Martin wollte noch mal nachfragen. Aber dann spürte er, wie sein Magen zu brennen begann. Auch der Himbeerdrops konnte das aufkommende Gefühl von Angst nicht mindern.
Vielleicht hat sie sich den Berg runtergerollt, dachte Martin. Und die drei Männer? Er beschloss, dass die Antwort zu grob war, also nicht zu den Geheimnissen gehören würde. Ihn also nicht interessierte. Er lief um das Denkmal herum. Jetzt sah er die versteinerte Frau von hinten.
Der Mond gehet unter, die Liebe geht unter, das Schiff zieht hinunter, wer hält sie auf? Und Frau Lorelay rief siebenmal zurück: Wer hält sie auf?
Sie starrte ihn an. Nicht unfreundlich, aber …
Im Saal auf siebenfachen Thronen, sitzt Lorelay mit sieben Kronen, rings ihre sieben Töchter wohnen. Frau Lorelay, die Zauberinne, ist schönen Leibs und kluger Sinne, hoch hebt sich ihres Schlosses Zinne …
So ganz genau stimmte das nicht. Ein Schloss konnte Martin nirgendwo sehen. Das musste daran liegen, dass es ein Märchen war. Da stimmte selten was. Das dachten sich Dichter beim Weintrinken aus.
»Wo ist das Schloss mit den siebenfachen Thronen?«
Großvater griente. »Als der Dichter das Märchen schrieb, stand es hier irgendwo, inzwischen hat man es abgerissen. Sie reißen ja alles ab, was der Krieg übrig gelassen hat, in den Innenstädten siehst du das. Dann bauen sie diese hässlichen Kaufhauskästen aus Waschbeton hin.«
»Menschen müssen einkaufen«, sagte der Vater.
Martin dachte: Sie reden immer herum. Sie sind nie einer Meinung. Sie setzen sich nie hin und
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