Die verzauberten Frauen
gehen.
Martin suchte sich ein dickes Lexikon aus einer ganzen roten Reihe mit den Buchstaben O wie Orden und P wie Philochoreiten heraus und nahm es mit in die Kissen. Von nebenan hörte er das Grummeln der Stimmen. Er suchte in dem Buch und fand einen Eintrag. Er verstand nicht alles. Vor allem nicht das auf Französisch. L’ordre des Philochoréites ou Amants du plaisier. Aber es klang gut. Eine geheime Verbindung von Männern und Frauen, vor schwindelerregend langer Zeit von jungen Offizieren eingeführt und nach Spanien verbreitet. Aufnahmegebräuche wie an den Liebeshöfen. Androgyner Orden, der tanzte. Was waren Liebeshöfe, was ein androgyner Orden?
Was Großvater alles wusste! Martin beschloss noch, Mitglied in diesem androgynen Orden zu werden, denn er hatte keinen Beweis dafür gefunden, dass er es schon war, auch wenn Großvater es behauptete. Dann schlief er ein. Er hörte nicht mehr, wie das schwere Buch zu Boden polterte.
Rosenthal hatte schon während der Sitzung daran gedacht, seinen Wanderbruder Martin Velsmann zu Rate zu ziehen, von dem er wusste, dass er sich mit Sohn und Vater zufällig gerade in Eltville bei Verwandten aufhielt. Der Polizist gehörte zum inneren Kreis der erfolgreichen Ermittler Hessens. Und seit der Gründung des Wandervereins Rheingauer Höhenweg gehörte Velsmann zu seinen Freunden. Aber er hatte Angst davor. Er wusste, Velsmann war nicht mehr zu kontrollieren, wenn er einmal seine Nase in einen mysteriösen Fall gesteckt hatte. Und das war zu diesem Zeitpunkt zu riskant.
Sie hatten tatsächlich keine menschlichen Überreste gefunden, niemand war im Tresorraum begraben worden. Aber wozu dann dieses Grab? Wegen der Kleidungsstücke? Wegen des Kinderspielzeugs? Wegen der Schatulle mit diesen albernen Bändern oder wegen dieser Rolle beschrifteten Pergamentes? Wer machte so was? Und vor allem, wann hatte er es getan?
Ein makabrer Scherz? Irgendwas in Rosenthal sagte: Nein.
Die Schriftrolle war natürlich am interessantesten. Ihre Zeichen mussten untersucht werden. Und sie würden verstanden werden. Er wollte später selbst einen Blick darauf werfen. Wahrscheinlich war es nachitische Schrift, eine sehr alte Schriftsprache. Aber ein Armutszeugnis war es schon, dass keiner der anwesenden Experten die Steinmetzzeichen und das Wappen auf dem Grabdeckel entziffern konnte. Man hatte bis zum Morgengrauen darüber gebrütet. Schriftzeichen, natürlich, ein Witzbold wollte etwas verrätseln, hatte Brendenahl gelacht. Und Menschenhaut? Jemand von den Archäologen hatte das behauptet. Natürlich, dachte Rosenthal und massierte seine schmerzenden Schläfen, darunter machen wir es heutzutage nicht.
Abgezogene Menschenhaut!
Er wusste, wie Pergament nach entsprechender Behandlung aussah. Der Papiersachverständige aus der Denkmalakademie würde es bestätigen.
Maria schlief noch und er wusste ohnehin, das Konzert würde ein voller Erfolg gewesen sein. Beethovens Fünfte zog immer, schon wegen der Hoffnungsschimmer in C-Dur am Ende, nachdem am Anfang alles im schicksalhaften Moll zu versinken drohte, und die Bamberger Symphoniker zogen sowieso.
Rosenthal streckte sich nach der Sitzung, die nach einem schleichenden Anfang, einem angestrengten Mittelteil bis zum frühen Morgen gedauert hatte, aus und schloss die Augen. Hinter seinen Augen begann jemand, auf ihn zu deuten. Ein ausgestreckter Zeigefinger. Ja, er war gemeint. Ein ekelhafter Besserwisser wollte nicht, dass er einschlief. Es ging um die verschwundene Bibliothek des Klosters. Ist ja gut, dachte Rosenthal. Damit habe ich mich schon so oft beschäftigt, mehr als du denkst, lass mich in Ruhe. Sieben Manuskripte, sagte der Besserwisser, alle verschollen, einst der größte Schatz des Klosters, erinnerst du dich? Das erste ein Lob der Schöpfung, das vierte eine Ahnung und Ermahnung, das letzte eine böse Verheißung. Das Ende der Welt, versuche, dich zu erinnern! Ja doch!, dachte Rosenthal, hier kommt ohnehin keiner darum herum, darüber nachzudenken, das ist doch das allerbeliebteste Geheimnis hinter den Klostermauern überhaupt – selbst Konrad Adenauer hat danach mit rheinischem Dialekt gefragt, als er im Frühjahr zu Besuch war, und dabei seine Gesichtsmaske zerknautscht. Und diese Schriftrolle könnte das siebte Pergament sein, nach dem alle so gereizt suchen? Undenkbar! Das Pergament! Die Prophezeiung! Das Ende der Welt! Ja ja!
Menschenhaut!
Rosenthal stöhnte. Neben ihm rührte sich Maria. Rosenthal stellte sich
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