Die vierte Hand
Clausen war lange davor auf. Als Wallingford erwachte, war das Zimmer von einem perlgrauen oder zinnfarbenen Schimmer erfüllt, und er merkte, daß er erregt war; das Ganze war einem der erotischeren Momente des Blaue-Kapsel-Traums nicht unähnlich.
Mrs. Clausen streifte ihm gerade das zweite Kondom über. Sie hatte dafür eine selbst für Wallingford neue Methode gefunden - sie rollte es mit den Zähnen auf seinem Penis ab. Für jemanden, der keine Erfahrung mit Kondomen hatte, war sie ungemein erfinderisch, aber sie gestand, daß sie in einem Buch von dieser Methode gelesen hatte. »War das ein Roman?« wollte Wallingford wissen. (Natürlich war es das!)
»Gib mir deine Hand«, befahl Mrs. Clausen.
Natürlich dachte er, sie meinte die Rechte - es war seine einzige Hand. Doch als er ihr die rechte Hand entgegenstreckte, sagte sie: »Nein, die vierte.«
Patrick meinte, er habe sich verhört. Bestimmt hatte sie gesagt »Nein, die linke« - die Phantomhand, die Nichthand, wie fast jeder sie nannte. »Die was?« fragte Wallingford, nur um sicherzugehen. »Gib mir deine Hand, die vierte«, sagte Doris. Sie packte seinen Stumpf und klemmte ihn sich fest zwischen die Oberschenkel, wo er seine fehlenden Finger lebendig werden spürte.
»Da waren die zwei Hände, mit denen du auf die Welt gekommen bist«, erklärte Mrs. Clausen. »Eine hast du verloren. Die von Otto war deine dritte. Und was die da angeht«, sagte sie und preßte wie zur Betonung die Oberschenkel zusammen, »die wird mich nie vergessen. Das ist meine. Es ist deine vierte.«
»Ach.« Vielleicht konnte er sie deshalb spüren, als ob sie wirklich da wäre.
Nachdem sie miteinander geschlafen hatten, schwammen sie wieder nackt, doch diesmal blieb jeweils einer von ihnen im Zimmer des kleinen Otto am Fenster stehen und sah dem anderen beim Schwimmen zu. Während Mrs. Clausen im Wasser war, erwachte mit dem Sonnenaufgang Otto junior.
Dann waren sie mit Packen beschäftigt. Doris erledigte alles, was zu tun war, um das Cottage zu schließen. Sie fand sogar Zeit, den letzten Abfall über den See zu dem Container auf dem Steg zu befördern. Wallingford blieb bei Otto. Da das Baby nicht bei ihr war, fuhr Doris das Boot sehr viel schneller.
Sie hatten alle ihre Taschen und die Babysachen auf dem großen Landesteg zusammengetragen, als das Wasserflugzeug kam. Während der Pilot und Mrs. Clausen das kleine Flugzeug beluden, hielt Wallingford Otto junior in seinem rechten Arm und winkte ohne Hand dem Voyeur am anderen Ufer zu. Dann und wann konnten sie das in der Linse seines Fernrohrs reflektierte Sonnenlicht sehen.
Als das Wasserflugzeug abhob, ließ es sich der Pilot nicht nehmen, niedrig über den Steg des Neuankömmlings hinwegzufliegen. Der Voyeur tat so, als wäre sein Fernrohr eine Angelrute und er angelte von seinem Steg aus; immer wieder warf er albernerweise seine imaginäre Leine aus. Mitten auf dem Steg stand, wie das Gestell für ein primitives Geschütz, unübersehbar das Dreibein des Teleskops. In der Kabine war es so laut, daß Wallingford und Mrs. Clausen sich nur brüllend hätten miteinander unterhalten können. Aber sie sahen einander und auch das Baby, das sie abwechselnd hielten, unentwegt an. Als das Wasserflugzeug zur Landung ansetzte, sagte Patrick es ihr erneut - ohne einen Laut, nur mit Lippenbewegungen -: »Ich liebe dich.« Doris reagierte zunächst nicht, und als sie es dann doch tat - ebenfalls ohne die Worte tatsächlich zu sagen, sondern indem sie ihn von ihren Lippen ablesen ließ -, war es der gleiche Satz, länger als »Ich liebe dich«, den sie schon einmal gesagt hatte. (»Ich denke noch immer darüber nach.«)
Wallingford konnte nur abwarten.
Vom Anlegeplatz des Wasserflugzeuges aus fuhren sie zum Austin Straubel Airport in Green Bay. Otto junior machte in seinem Kindersitz Theater, während Wallingford sich bemühte, ihn zu beschäftigen. Doris fuhr. Jetzt, wo sie einander reden hören konnten, hatten sie sich offenbar nichts zu sagen.
Als Patrick am Flughafen Mrs. Clausen und dann den kleinen Otto zum Abschied küßte, spürte er, wie ihm Mrs. Clausen etwas in die rechte Hosentasche steckte. »Bitte sieh es dir nicht jetzt an. Bitte warte bis später«, bat sie ihn. »Bedenke einfach folgendes: Meine Haut ist wieder zusammengewachsen, das Loch hat sich geschlossen. Ich könnte das nicht noch mal tragen, auch wenn ich wollte. Und außerdem, wenn ich bei dir ende, brauche ich es nicht, das weiß ich. Und du brauchst es
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