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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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mitnahmen.
    »Was haben wir vor?« fragte Doris.
    »Wir gehen noch mal schnell ins Wasser«, sagte er. »Und dann setzen wir uns kurz auf den Steg.«
    Mrs. Clausen machte sich Sorgen, daß sie es vielleicht nicht hörten, wenn Otto aufwachte, obwohl die Fenster in seinem Zimmer offen waren. Die Fenster gingen auf den See, nicht auf den großen Steg im Freien, und hin und wieder kam geräuschvoll ein Motorboot vorbei, aber Patrick versicherte, daß er das Baby hören würde.
    Sie sprangen von dem großen Steg ins Wasser und stiegen rasch wieder die Leiter hoch; gleich darauf war der Steg in Schatten gehüllt. Die Sonne war hinter die Wipfel auf ihrer Seite des Sees gesunken, doch das Ostufer lag noch im Licht. Auf den Handtüchern saßen sie auf dem Steg, während Wallingford Mrs. Clausen von den Tabletten erzählte, die er in Indien gegen die Schmerzen genommen, und wie er (in dem Blaue-Kapsel-Traum) im Holz des Steges die Sonnenhitze gespürt hatte, obwohl der Steg im Schatten lag. »So wie jetzt«, sagte er.
    Sie saß einfach nur da und zitterte leicht in ihrem nassen Badeanzug. Unbeirrt erzählte ihr Patrick, wie er die Frauenstimme gehört, nie aber die Frau gesehen hatte; daß sie die erotischste Stimme der Welt gehabt und wie sie gesagt hatte: »Mein Badeanzug fühlt sich so kalt an. Ich ziehe ihn aus. Willst du deine Badehose nicht auch ausziehen?« Mrs. Clausen sah ihn unverwandt an - sie zitterte noch immer. »Bitte sag es«, bat Wallingford. »Mir ist nicht danach«, antwortete Doris.
    Er erzählte ihr auch den Rest des kobaltblauen Traums - wie er mit ja geantwortet hatte. Und dann das Geräusch des Wassers, das von ihren Badesachen zwischen den Planken des Stegs hindurch in den See zurücktropfte. Er erzählte ihr, daß er und die Frau nackt gewesen waren; dann, wie er das von ihren Schultern aufgenommene Sonnenlicht gerochen und wie er den See auf der Zunge geschmeckt hatte, als er damit den Umriß ihres Ohrs nachzeichnete.
    »Du hast in dem Traum mit ihr geschlafen?« fragte Mrs. Clausen. »Ja.«
    »Ich kann das nicht«, sagte sie. »Nicht hier draußen und nicht jetzt. Außerdem gibt's am anderen Ufer ein neues Cottage. Die Clausens haben mir erzählt, daß der Typ ein Fernrohr hat und heimlich die Leute beobachtet.«
    Patrick sah die Stelle, die sie meinte. Die Hütte am anderen Seeufer hob sich mit ihrem neuen Holz deutlich vom Blau und Grün der Umgebung ab.
    »Ich dachte, der Traum würde wahr«, sagte er nur. (Fast wäre er wahr geworden, wollte er ihr sagen.)
    Mrs. Clausen stand auf und nahm dabei ihr Handtuch mit. Sie hüllte sich darin ein und zog ihren nassen Badeanzug aus. Sie hängte ihn an die Leine und wickelte sich enger in das Handtuch. »Ich wecke jetzt Otto«, sagte sie.
    Wallingford zog seine Badehose aus und hängte sie neben Doris' Badeanzug an die Leine. Weil sie schon zum Bootshaus gegangen war, machte er sich nicht die Mühe, sich mit dem Handtuch zu bedecken. Einen Moment lang wandte er sich sogar nackt dem See zu, bloß um das Arschloch mit dem Fernrohr zu zwingen, ihn sich gründlich anzusehen. Dann schlang er sich das Handtuch um die Hüfte und stieg die Treppe zu seinem Zimmer hinauf.
    Er zog eine trockene Badehose und ein Polohemd an. Als er ins andere Zimmer kam, hatte sich Mrs. Clausen ebenfalls umgezogen; sie trug ein altes ärmelloses Hemd und eine kurze Turnhose aus Nylon. Es waren Kleider, wie sie ein Junge in einer Sporthalle tragen würde, aber sie sah großartig darin aus.
    »Weißt du, Träume müssen nicht hundertprozentig lebensecht sein, um wahr zu werden«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Ich weiß nicht, ob ich bei dir eine Chance habe«, sagte Patrick zu ihr. Sie ging den Pfad zur Haupthütte hinauf und hielt sich dabei absichtlich vor ihm, während er den kleinen Otto trug. »Ich denke noch immer darüber nach«, sagte sie. Sie hatte ihm nach wie vor den Rücken zugekehrt. Er überschlug, was sie gesagt hatte, indem er die Silben ihrer Worte zählte. Nach seinem Dafürhalten waren es die gleichen Worte, die sie auch im Boot zu ihm gesagt hatte, als er sie nicht verstehen konnte. (»Ich denke noch immer darüber nach.«) Er hatte also doch eine Chance bei ihr, wenn auch wahrscheinlich nur eine geringe. Sie aßen in aller Ruhe auf der mit Fliegengittern versehenen Veranda der Haupthütte, die auf den dunkler werdenden See hinausging. Die Moskitos summten gegen die Gitter. Sie tranken die zweite Flasche Rotwein, während Wallingford von seinen halbherzigen

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