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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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den Film nicht mehr gesehen? Er lieh sich das Video und sah es sich sofort an. Doch als er zu der Szene kam, kriegte er nicht richtig mit, wie die betreffende Stelle am Hals einer Frau hieß. Mrs. Clausen hatte allerdings recht gehabt; »Gefäßring« hieß es nicht. Er spulte das Video zurück und sah sich die Szene noch einmal an. Almasy und Madox verabschieden sich voneinander. (Madox kehrt nach Hause zurück, um sich umzubringen.) Almasy sagt: »Es gibt keinen Gott.« Und fügt hinzu: »Aber ich hoffe, jemand paßt auf Sie auf.« Madox erinnert sich offenbar an etwas und deutet auf seinen Hals. »Falls Sie es immer noch wissen wollen - man nennt das Halsgrube.« Beim zweiten Mal verstand Patrick den Text. Hatte die Stelle am Hals einer Frau etwa zwei Namen?
    Und als er sich den Film noch einmal angesehen und den Roman fertiggelesen hatte, verkündete er Mrs. Clausen, wie sehr ihm die Stelle gefallen habe, wo Katharine zu Almasy sagt: »Ich möchte, daß Sie mich fortreißen.«
    »Im Buch, meinst du«, sagte Mrs. Clausen. »Im Buch und im Film«, erwiderte Patrick.
    »Im Film kommt das nicht vor«, meinte Doris. (Er hatte den Film gerade gesehen - er war sich sicher, daß der Text darin vorkam!) »Du hast bloß geglaubt, du hörst diesen Text, weil er dir so gefällt.« »Gefällt er dir etwa nicht?«
    »So was gefällt nur Kerlen«, sagte sie. »Ich habe nie geglaubt, daß sie das zu ihm sagen würde.«
    War ihm Katharines Äußerung »Ich möchte, daß Sie mich fortreißen« so vollkommen einleuchtend erschienen, daß er in seiner leicht zu täuschenden Erinnerung den Text schlicht und einfach in den Film eingefügt hatte? Oder hatte Doris den Text so unplausibel gefunden, daß sie ihn ausgeblendet hatte? Und was spielte es für eine Rolle, ob der Text in dem Film vorkam oder nicht? Entscheidend war, daß er Patrick gefiel und Mrs. Clausen nicht.
    Wieder einmal kam sich Patrick wie ein Idiot vor. Er hatte versucht, sich in ein Buch einzudrängen, das Doris Clausen liebte, und in einen Film, der (jedenfalls für sie) mit schmerzlichen Erinnerungen verbunden war. Aber Bücher, und manchmal auch Filme, sind etwas Persönlicheres; man kann sie gemeinsam zu schätzen wissen, doch die speziellen Gründe, aus denen man sie liebt, kann man schlecht teilen. Gute Romane und Filme sind nicht wie die Nachrichten oder das, was als Nachrichten gilt - sie sind mehr als Meldungen. Sie bestehen aus der ganzen Palette von Stimmungen, in denen man sich befindet, wenn man sie liest oder sieht. Die Liebe eines anderen zu einem Film oder einem Buch läßt sich, wie Patrick mittlerweile glaubte, niemals genau nachahmen.
    Aber Doris Clausen spürte wohl seine Entmutigung und hatte Erbarmen mit ihm. Sie schickte ihm zwei weitere Fotos von ihrer gemeinsamen Zeit in dem Cottage am See. Er hatte gehofft, sie würde ihm das von ihren Badesachen schicken, wie sie nebeneinander an der Leine hingen. Wie er sich freute, als er dieses Bild bekam! Er klebte es an den Spiegel in seiner Bürogarderobe. (Darüber sollte Mary Shanahan mal eine gehässige Bemerkung machen! Sollte sie's bloß versuchen!) Das zweite Foto allerdings schockte ihn. Er hatte noch geschlafen, als Mrs. Clausen es gemacht hatte, ein Selbstporträt, bei dem sie die Kamera schief in der Hand gehalten hatte. Egal - man konnte gut genug sehen, was vor sich ging. Doris riß mit den Zähnen die Verpackung des zweiten Kondoms auf. Sie lächelte in die Kamera, als wäre Wallingford die Kamera und als wüßte er bereits, daß sie ihm das Kondom überstreifen würde.
    Dieses Foto klebte Patrick nicht an den Spiegel seiner Bürogarderobe; er bewahrte es in seiner Wohnung auf, auf dem Nachtschränkchen, neben dem Telefon, damit er es betrachten konnte, wenn Mrs. Clausen ihn oder er sie anrief.
    Eines Nachts, als er spät ins Bett gegangen, aber noch nicht eingeschlafen war, klingelte das Telefon, und Wallingford machte das Licht auf seinem Nachtschränkchen an, um ihr Bild betrachten zu können, wenn er mit ihr sprach. Aber es war nicht Doris.
    »He, Mister Einhand ... Mister Ohneschwanz«, sagte Angies Bruder Vito. »Ich hoffe, ich störe gerade...« (Vito rief oft an, und nie hatte er etwas zu sagen.)
    Als Wallingford auflegte, tat er es mit deutlicher Traurigkeit, die fast an Wehmut heranreichte. In den Stunden, die er zu Hause verbrachte, fehlte ihm, seit er aus Wisconsin nach New York zurückgekehrt war, nicht nur Doris Clausen; ihm fehlte auch die wilde Kaugummi-Nacht mit Angie.

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