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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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bringt dich zur Otis Air Force Base.« »Wo ist das?« fragte Wallingford. »Cape Cod. Weißt du, was passiert ist, Pat?« »Ich habe geschlafen, Mary.«
    »Scheiße, dann mach die Nachrichten an! Ich rufe dich in fünf Minuten zurück. Das mit Wisconsin kannst du vergessen.« »Ich gehe auf jeden Fall nach Green Bay«, sagte er, aber sie hatte schon aufgelegt. Nicht einmal die Kürze ihres Anrufs und die Härte ihrer Mitteilung konnten das kleinmädchenhafte, überladene Blumenmuster von Marys Tagesdecke oder das rosa Gewoge ihrer Lavalampe und dessen protozoenhafte Bewegung an der Zimmerdecke - die wie Spermien flitzenden Schatten - aus seiner Erinnerung löschen. Er machte die Nachrichten an. Eine ägyptische Passagiermaschine mit 217 Menschen an Bord, ein Nachtflug nach Kairo, war vom Kennedy Airport aus gestartet und nur dreiunddreißig Minuten später von den Radarschirmen verschwunden. Ungefähr sechzig Meilen südöstlich von Nantucket Island war das Flugzeug aus einer Reiseflughöhe von knapp über 10000 Metern bei gutem Wetter plötzlich in den Atlantik gestürzt. Aus dem Cockpit war kein Notruf gesendet worden. Radarbeobachtungen deuteten darauf hin, daß die Fallgeschwindigkeit des Jets über 7000 Meter pro Minute betragen hatte - »wie ein Stein«, formulierte es ein Luftfahrtexperte. Das Wasser war an dieser Stelle fünfzehn Grad kalt und knapp achtzig Meter tief; es bestand wenig Hoffnung, daß jemand den Absturz überlebt hatte.
    Ein Absturz dieser Art bot sich für Medienspekulationen geradezu an - die Berichterstattung würde durchweg spekulativ ausfallen. Es würden massenhaft ergreifende Storys produziert werden. Ein Geschäftsmann, der ungenannt bleiben wollte, war zu spät zum Flughafen gekommen und am Ticketschalter abgewiesen worden. Als man ihm sagte, der Flug sei schon abgefertigt, wurde er laut. Er fuhr nach Hause und wachte am Morgen lebendig auf. Dergleichen würde man nun tagelang zu hören bekommen.
    Eines der Flughafenhotels auf Kennedy, das ›Ramada Plaza‹, war zu einem Informations- und Beratungszentrum für trauernde Angehörige umfunktioniert worden - nicht, daß es viele Informationen gab. Trotzdem fuhr Wallingford hin. Er zog den Kennedy Airport der Otis Air Force Base auf Cape Cod vor - der Grund war, daß die Medien nur begrenzt Zugang zu den Mannschaften der Küstenwache haben würden, die die Absturzstelle abgesucht hatten. Bis zum Morgengrauen an jenem Sonntag hatten sie angeblich erst wenig Treibgut und die Überreste einer einzigen Leiche gefunden. Auf der unruhigen See trieb nichts, was verbrannt aussah. Das ließ vermuten, daß es keine Explosion gegeben hatte. Patrick sprach als erstes mit den Angehörigen einer jungen Ägypterin, die vor dem ›Ramada Plaza‹ zusammengebrochen war. Sie war vor den Augen der Kamerateams zusammengesackt, die sich um den Hoteleingang drängten; Polizeibeamte trugen sie ins Foyer. Ihre Angehörigen erzählten Wallingford, ihr Bruder sei in dem Flugzeug gewesen. Natürlich war auch der Bürgermeister da und spendete, so gut es ging, Trost. Wallingford konnte jederzeit auf einen Kommentar des Bürgermeisters zählen. Giuliani schien den Löwenmann sympathischer zu finden als die meisten Reporter. Vielleicht sah er Patrick als eine Art Polizist, der im Dienst verwundet worden war; wahrscheinlich aber erinnerte er sich einfach bloß an Wallingford, weil dieser nur eine Hand hatte. »Wenn die Stadt New York in irgendeiner Weise helfen kann, dann versuchen wir das natürlich«, sagte Giuliani der Presse. Er wirkte ein wenig müde, als er sich Patrick Wallingford zuwandte und sagte: »Manchmal geht es ein bißchen schneller, wenn der Bürgermeister darum bittet.« Ein Ägypter benutzte das Foyer des ›Ramada‹ als Behelfsmoschee; »Gott gehören wir, und zu Gott kehren wir zurück«, betete er unentwegt auf arabisch. Wallingford mußte es sich von jemandem übersetzen lassen.
    In der Ablaufbesprechung vor der Sendung am Sonntag abend bekam Patrick klipp und klar gesagt, was der Sender vorhatte. »Entweder bist du morgen abend unser Moderator, oder du bist für uns auf einem Kutter der Küstenwache«, teilte Mary Shanahan ihm mit. »Ich bin ab morgen bis Dienstag in Green Bay, Mary«, sagte Wallingford. »Sie werden die Suche nach Überlebenden morgen einstellen, Pat. Wir wollen dich dort, auf dem Meer. Oder hier in New York. Nicht in Green Bay.«
    »Ich gehe zu dem Footballspiel«, sagte Wallingford zu ihr. Er sah Wharton an, der den Blick

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