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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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würde sagen »geschmacklos« - neu möbliert worden war. (Hildred hatte alle guten Möbel mitgenommen.) Das Wohnzimmer mit seinen nicht zueinander passenden Vorhängen und Polstermöbeln war völlig überladen; es wirkte so, als hätten drei oder vier Generationen von Zajacs darin gelebt und wären darin gestorben, ohne daß man je etwas weggeworfen hatte.
    Angesichts der Beschaffenheit des Zimmers ließ sich eine unauffällige Küchenuhr ziemlich einfach in voller Sicht verstecken. Rudy fand sie nur manchmal binnen einer Minute, ehe der Signalton ertönte, und Zajac machte das Ding, selbst wenn er es binnen zehn Sekunden erspähte, niemals vor Ablauf der Minute ausfindig - zum großen Vergnügen seines Sohnes. Also heuchelte er Enttäuschung, während Rudy lachte. Dann kam es zu einem Durchbruch, der über das schlichte Vergnügen des Küchenuhrspiels hinausging und Vater wie Sohn überraschte. Dieser Durchbruch kam mit dem Lesen - dem wahrhaft unerschöpflichen Vergnügen des Vorlesens -, und Dr. Zajac beschloß, Rudy die beiden Bücher vorzulesen, die er selbst als Kind am meisten geliebt hatte. Es handelte sich um Klein Stuart und Wilbur und Charlotte, beide von E. B. White.
    Rudy war so beeindruckt von Wilbur, dem Schwein in Wilbur und Charlotte, daß er Medea umtaufen und sie statt dessen Wilbur nennen wollte. »Das ist ein Jungenname«, erklärte Zajac, »und Medea ist ein Mädchen. Aber es ginge wohl schon. Du könntest sie allerdings auch in Charlotte umtaufen, wenn du magst - Charlotte ist nämlich ein Mädchenname.« »Aber Charlotte stirbt«, wandte Rudy ein. (Die titelgebende Charlotte ist eine Spinne.) »Ich habe doch schon Angst, daß Medea sterben wird.« »Medea wird noch eine ganze Weile nicht sterben, Rudy«, versicherte Zajac seinem Sohn.
    »Mommy sagt, du machst sie vielleicht tot, weil du immer so die Beherrschung verlierst.«
    »Ich verspreche dir, daß ich Medea nicht totmache, Rudy«, sagte Zajac. »Bei ihr verliere ich die Beherrschung nicht.« (Das war typisch dafür, wie wenig ihn Hildred je verstanden hatte; daß er angesichts von Hundescheiße die Beherrschung verlor, hieß nicht, daß er auf Hunde wütend war!)
    »Erzähl mir noch mal, warum man sie Medea getauft hat«, sagte der Junge.
    Es war schwer, einem Sechsjährigen die griechische Sage zu vermitteln - man versuche nur einmal, zu beschreiben, was eine Zauberin ist. Allerdings war die Episode, wie Medea ihrem Mann Jason zum Goldenen Vlies verhilft, leichter zu erklären als das, was Medea ihren eigenen Kindern antut. Wie konnte man einen Hund nur Medea nennen? fragte sich Dr. Zajac.
    In den sechs Monaten seit seiner Scheidung hatte Zajac mehr als ein Dutzend Bücher von Kinderpsychiatern über Scheidungsfolgen bei Kindern gelesen. Darin wurde großer Wert darauf gelegt, daß die Eltern Sinn für Humor haben, was nicht gerade die Stärke des Handchirurgen war.
    Übermut packte ihn nur in den Momenten, in denen er einen Hundehaufen in einem Lacrosseschläger liegen hatte. Allerdings war Dr. Zajac in Deerfield nicht nur Mittelfeldspieler gewesen, sondern er hatte dort auch in einer Art Chor gesungen. Zwar sang er mittlerweile nur noch unter der Dusche, aber er verspürte jedesmal eine spontane Anwandlung von Humor, wenn er mit Rudy duschte. Mit seinem Vater zu duschen war ein weiterer Punkt auf der kleinen, aber wachsenden Liste von Dingen, die Rudy gern mit seinem Dad machte.
    Plötzlich gab Dr. Nicholas M. Zajac zur Melodie von »I Am the River«, das Rudy im Kindergarten gelernt hatte - wie viele Einzelkinder sang er sehr gern -, ein Lied zum besten.
    Ich bin Medea,
Und fresse meinen Kack.
In der An-ti-hi-ke
Murks ich meine Kinder ab!
    »Was?« sagte Rudy. »Sing das noch mal!« (Über die Antike hatten sie schon geredet.)
    Als sein Vater das Lied noch einmal sang, schüttete sich Rudy aus vor Lachen. Skatologischer Humor ist für Kinder das Schönste. »Sing das ja nicht in Gegenwart deiner Mutter«, ermahnte ihn sein Vater. So hatten sie ein Geheimnis, ein weiterer Schritt bei der Schaffung eines Bandes zwischen ihnen.
    Im Laufe der Zeit gelangten zwei Exemplare von Klein Stuart zu Rudy nach Hause, aber Hildred las dem Jungen nicht daraus vor; schlimmer noch, sie warf beide Exemplare weg. Erst als Rudy sie dabei ertappte, wie sie Wilbur und Charlotte wegwarf, erzählte er seinem Vater davon, was ein weiteres Band zwischen ihnen schuf.
    Jedes Wochenende, an dem sie zusammen waren, las Zajac seinem Sohn entweder Klein Stuart oder

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