Die vierte Hand
Wilbur und Charlotte komplett vor. Der Kleine bekam das nie satt. Er weinte jedesmal, wenn Charlotte starb; er lachte jedesmal, wenn Stuart das unsichtbare Auto des Zahnarztes kaputtmachte. Und wie Stuart sagte Rudy, wenn er durstig war, zu seinem Vater, er habe »einen fürchterlichen Durst«. (Beim ersten Mal mußte Rudy seinen Vater natürlich fragen, was »fürchterlich« bedeutete.) Obwohl es Dr. Zajac also recht gut gelungen war, Hildreds Botschaft an Rudy einiges entgegenzusetzen - der Junge war in zunehmendem Maße davon überzeugt, daß sein Vater ihn sehr wohl liebte -, redeten sich die kleingeistigen Kollegen des Handchirurgen gleichwohl ein, sie seien Zajac eben wegen der angeblichen Traurigkeit und Unterernährung seines sechsjährigen Sohnes überlegen.
Zunächst fühlten sie sich ihm auch wegen Irma überlegen. Als Haushälterin war sie in ihren Augen eindeutig dritte Wahl, doch als Irma sich zu verwandeln begann, nahmen sie sie bald anders wahr, lange bevor Zajac erkennen ließ, daß es ihm ebenso erging.
Daß er Irmas Verwandlung nicht bemerkte, bewies nur ein weiteres Mal, daß Dr. Zajac ein Verrückter von der blinden Sorte war. Die junge Frau hatte fast zehn Kilo abgenommen; sie war Mitglied in einem Fitneßclub geworden. Sie lief jeden Tag drei Meilen - und sie war keine bloße Joggerin. Wenn es ihrer neuen Garderobe auch an Geschmack fehlte, so stellte sie sehr bewußt ihren Körper zur Schau. Irma würde nie schön sein, aber sie war toll gebaut. Hildred setzte das Gerücht in die Welt, ihr Exmann sei mit einer Stripperin befreundet. (Geschiedene Frauen in den Vierzigern sind nicht für ihre Freundlichkeit gegenüber gutgebauten Frauen in den Zwanzigern bekannt.)
Irma war, nicht zu vergessen, verliebt. Ihr war das alles egal. Eines Nachts ging sie auf Zehenspitzen nackt durch den oberen Flur. Sie hatte sich überlegt, daß sie Zajac, falls er noch nicht schlafen gegangen war und sie zufällig unbekleidet sah, sagen würde, sie sei Schlafwandlerin und irgendeine Kraft habe sie in sein Zimmer gezogen. Irma sehnte sich danach, daß Dr. Zajac sie - natürlich rein zufällig - nackt zu Gesicht bekam, weil sie mehr als nur einen tollen Körper entwickelt hatte; sie hatte außerdem ein unerschütterliches Zutrauen zu ihm entwickelt. Doch als sie auf Zehenspitzen an der geschlossenen Schlafzimmertür des Doktors vorbeikam, wurde sie von der verblüffenden Überzeugung zum Stehen gebracht, sie habe Dr. Zajac beten hören. Beten empfand Irma, die nicht religiös war, als eine verdächtig unwissenschaftliche Betätigung für einen Handchirurgen. Sie lauschte noch ein wenig länger an der Tür des Arztes und stellte zu ihrer Erleichterung fest, daß Dr. Zajac nicht betete - er las sich lediglich mit andächtiger Stimme laut Klein Stuart vor.
»›Als es Zeit zum Essen war, nahm er seine Axt und fällte einen Löwenzahn, öffnete eine Dose mit gepfeffertem Schinken und nahm ein leichtes Abendessen aus Schinken und Löwenzahnmilch zu sich‹«, las Dr. Zajac aus Klein Stuart.
Ihre Liebe zu ihm bewegte Irma tief, doch schon die Erwähnung von gepfeffertem Schinken bereitete ihr Übelkeit. Auf dem Rückweg in ihr von der Küche abgehendes Zimmer machte sie kurz am Kühlschrank halt, um ein paar rohe Möhren aus der Schüssel mit schmelzendem Eis zu mampfen.
Wann würde der einsame Mann sie je wahrnehmen? Irma aß viel Nüsse und Trockenfrüchte; sie aß auch frisches Obst und bergeweise rohes Gemüse. Sie konnte einen hervorragenden gedünsteten Fisch mit Ingwer und schwarzen Bohnen zubereiten, der einen solchen Eindruck auf Dr. Zajac machte, daß er zur Verblüffung Irmas (und aller, die ihn kannten) spontan ein Essen für seine Studenten gab. Zajac stellte sich vor, daß vielleicht einer seiner Harvard-Jungs Irma fragen würde, ob sie mit ihm ausgehen wolle; sie kam ihm einsam vor, wie die meisten der Jungs. Der Doktor hatte keine Ahnung, daß Irma nur Augen für ihn hatte. Sobald er Irma seinen jungen männlichen Studenten als seine »Assistentin« vorgestellt hatte - und weil sie ganz offensichtlich was fürs Bett war -, nahmen sie an, daß er sie bereits bumste, und ließen alle Hoffnung fahren. (Zajacs Studentinnen fanden wahrscheinlich, daß Irma genauso verzweifelt aussah wie Zajac.) Egal. Der gedünstete Fisch mit Ingwer und schwarzen Bohnen war ein voller Erfolg, und Irma kannte noch andere Rezepte. Sie behandelte Medeas Hundefutter mit Fleischzartmacher, weil sie in einer Zeitschrift bei ihrem
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