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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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trank keine Milch, er aß weder Fleisch noch Fisch noch Käse, bekundete mitunter aber vorsichtiges Interesse an Joghurt, sofern keine Klumpen darin waren.
    Rudy war zwar untergewichtig, hätte aber bei nur wenig regelmäßigem Training oder einer gesunden Korrektur seines Speiseplans ebenso normal ausgesehen wie jeder beliebige kleine Junge. Er war ein außerordentlich liebes Kind - nicht nur der sprichwörtliche »brave Junge«, sondern ein Vorbild an Fairneß und Wohlwollen. Rudy war schlicht und einfach von seiner Mutter verkorkst worden, der es beinahe gelungen wäre, ihn seinem Vater zu entfremden. Schließlich hatte Hildred drei Wochen, in denen sie den verletzlichen Sechsjährigen bearbeiten konnte; Zajac dagegen blieben an jedem dritten Wochenende kaum mehr als achtundvierzig Stunden, um Hildreds üblem Einfluß entgegenzuwirken. Und weil sich Hildred durchaus bewußt war, welchen Kult Zajac aus anstrengendem Training machte, verbot sie Rudy, nach der Schule Fußball zu spielen oder Schlittschuh laufen zu gehen - der Junge wurde statt dessen mit Videos gefüttert.
    Hildred, die sich während ihrer Jahre mit Zajac fast umgebracht hatte, um schlank zu bleiben, fand mittlerweile an Fülligkeit Gefallen. »Fraulicher sein« nannte sie das, und beim bloßen Gedanken daran mußte ihr Exmann würgen.
    Am grausamsten aber war, daß Rudys Mutter den Jungen fast überzeugt hätte, daß sein Vater ihn nicht liebte. Hildred wies Zajac mit Vergnügen darauf hin, daß der Junge jedesmal deprimiert war, wenn er von den Wochenenden bei seinem Vater zurückkehrte; daß das daran lag, daß Hildred ihn bei seiner Rückkehr ausquetschte, wäre ihr nie in den Sinn gekommen.
    »War da eine Frau? Bist du dort einer Frau begegnet?« begann sie etwa. (Da waren nur Medea und all die Vögel.)
    Wenn man sein Kind wochenlang nicht sieht, ist der Wunsch, es zu verwöhnen, übermächtig; doch wenn Zajac Rudy Geschenke kaufte, sagte Hildred dem Jungen, daß sein Vater ihn besteche. Oder aber ihr Gespräch mit dem Jungen entwickelte sich nach folgendem Muster: »Was hat er dir gekauft? Rollschuhe? Na, viel Vergnügen - anscheinend will er, daß du dir den Kopf aufschlägst! Und ich nehme an, er hat dich keinen einzigen Film gucken lassen. Also ehrlich, er hat dich nur für zwei Tage und drei Nächte - da kann man doch erwarten, daß er sich von seiner besten Seite zeigt. Da würde man doch meinen, daß er sich ein bißchen mehr Mühe gibt!«
    Aber das Problem war natürlich, daß sich Zajac zu viel Mühe gab. In den ersten vierundzwanzig Stunden, die sie zusammen waren, erschlug seine frenetische Energie den Jungen förmlich.
    Medea geriet über den Besuch des Jungen ebensosehr aus dem Häuschen wie Zajac, aber das Kind blieb teilnahmslos - jedenfalls verglichen mit dem wie rasenden Hund -, und trotz der überall vorhandenen Anzeichen dafür, welche liebevollen Vorbereitungen der Handchirurg getroffen hatte, um seinem Sohn etwas zu bieten, wirkte Rudy gegenüber seinem Vater geradezu feindselig. Man hatte ihn darauf getrimmt, auf Beispiele dafür zu achten, daß sein Vater ihn nicht liebte; da er keine fand, war er zu Beginn ihrer gemeinsamen Wochenenden jedesmal völlig verwirrt. Es gab ein Spiel, das Rudy selbst an jenen trostlosen Freitagabenden mochte, an denen Dr. Zajac das Gefühl hatte, ihm bleibe nur noch das quälende Bemühen, mit seinem einzigen Kind Small talk zu machen. Zajac klammerte sich mit väterlichem Stolz an die Tatsache, daß er das Spiel selbst erfunden hatte.
    Sechsjährige lieben die Wiederholung, und das Spiel, das Dr. Zajac erfunden hatte, hätte ohne weiteres »Wiederholung Plus« heißen können, obwohl weder Vater noch Sohn sich die Mühe machten, ihm einen Namen zu geben. Zu Beginn ihrer gemeinsamen Wochenenden war es das einzige Spiel, das sie spielten.
    Sie versteckten abwechselnd eine Küchenuhr, die jedesmal auf eine Minute eingestellt war, und sie versteckten sie stets im Wohnzimmer. Das Wort »verstecken« trifft es allerdings nicht ganz, denn die einzige Regel des Spiels besagte, daß die Küchenuhr sichtbar bleiben mußte. Sie durfte weder unter ein Kissen gesteckt noch in einer Schublade verstaut (und auch nicht unter einem Haufen Vogelfutter im Käfig der Purpurfinken vergraben) werden. Sie mußte deutlich zu sehen sein; aber die Küchenuhr war klein und beigefarben und von daher schwer zu sehen, zumal in Dr. Zajacs Wohnzimmer, das wie der Rest des alten Hauses in der Brattle Street hastig - Hildred

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