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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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jedenfalls nicht, wenn es ein gutes Spiel war. (Sie meinte damit, daß niemand sie beachten würde.) Deshalb sahen sie und Wallingford sich die Packers im Fernsehen an. Absurderweise flog er nach Green Bay, nur um fernzusehen. Niemals aber streichelte Mrs. Clausen die Hand ausgiebiger oder ließ sich ausgiebiger von ihr berühren als bei einem Spiel der Packers, und sei es nur eine Fernsehübertragung; und während sie gebannt auf den Bildschirm starrte, konnte Patrick sie ebenso betrachten. Er ertappte sich dabei, daß er sich ihr Profil einprägte, die Art und Weise, wie sie sich bei einer »Third and long«-Situation auf die Unterlippe biß. (Sie mußte ihm erklären, daß »third and long« bedeutete, daß Brett Favre, der Quarterback von Green Bay, Gefahr lief, gesackt zu werden oder eine Interception zu werfen.)
    Manchmal tat sie Wallingford unabsichtlich weh. Wenn Favre gesackt oder ein Paß von ihm abgefangen wurde - oder, noch schlimmer, wenn die andere Mannschaft punktete -, drückte Mrs. Clausen kräftig die Hand ihres verstorbenen Mannes.
    »Aaahhh!« schrie Wallingford dann in schamloser Übertreibung seiner Schmerzen.
    Worauf es Küsse, ja sogar Tränen für die Hand gab. Das war die Schmerzen wert, die sich deutlich von dem Stechen unterschieden, das die Tritte des ungeborenen Kindes hervorriefen; jenes Kribbeln entstammte einer anderen Welt.
    So flog Wallingford fast jede Woche tapfer nach Green Bay. Nie fand er ein Hotel, das ihm gefiel, aber Doris erlaubte ihm nicht, in dem Haus zu wohnen, das sie mit Otto geteilt hatte. Auf diesen Reisen lernte Patrick andere Clausens kennen - Otto hatte eine riesige, anhängliche Familie. Die meisten davon zeigten ihre Zuneigung zu Ottos Hand ganz ungehemmt. Während Ottos Vater und Brüder ein Schluchzen unterdrückten, weinte Ottos Mutter, eine denkwürdig üppige Frau, ganz offen; und die einzige unverheiratete Schwester preßte die Hand an ihre Brust und fiel gleich darauf in Ohnmacht. Wallingford hatte den Blick abgewandt und fing sie deshalb nicht auf, als sie fiel. Er machte sich Vorwürfe, daß sie sich an einem Couchtisch einen Zahn ausschlug, zumal ihr Lächeln von vornherein nicht sonderlich vorteilhaft gewesen war. Zwar waren die Clausens ein Clan, dessen urwüchsiger Frohsinn in deutlichem Gegensatz zu Wallingfords Zurückhaltung stand, doch er fühlte sich auf merkwürdige Weise zu ihnen hingezogen. Sie besaßen den durch nichts zu erschütternden Überschwang von Saisonkarteninhabern, und sie hatten allesamt Menschen geheiratet, die wie Clausens aussahen. Mit Ausnahme von Doris, die eine Sonderstellung einnahm, konnte man die angeheirateten nicht von den Blutsverwandten unterscheiden.
    Patrick konnte sehen, wie nett die Clausens zu ihr waren und wie fürsorglich. Sie hatten sie akzeptiert, obwohl sie eindeutig anders war; sie liebten sie als eine der Ihren. Im Fernsehen wirkten die Familien, die den Clausens ähnelten, abstoßend, was die Clausens eindeutig nicht waren. Wallingford war auch nach Appleton gefahren, um Doris' Eltern kennenzulernen, die ebenfalls mit der Hand Kontakt haben wollten. Von Mrs. Clausens Vater erfuhr Wallingford mehr über Doris' Job. Er hatte nicht gewußt, daß sie ihn seit ihrem High-School-Abschluß hatte. Doris arbeitete schon länger, als Patrick Wallingford Journalist war, im Kartenverkauf für die Green Bay Packers. Der Verein hatte Mrs. Clausen sehr unterstützt und ihr sogar das College finanziert.
    »Doris kann Ihnen Karten besorgen, wissen Sie«, verriet ihm Mrs. Clausens Vater. »Und Karten sind hier herum teuflisch schwer zu kriegen.« Green Bay erlebte nach der Niederlage gegen Denver in der zweiunddreißigsten Super Bowl eine harte Saison. Wie Doris am letzten Lebenstag des unglücklichen Mannes so rührend zu Otto gesagt hatte: »Es gibt keine Garantie dafür, daß man die Super Bowl noch mal erreicht.« Die Packers sollten nicht über das Wildcard-Spiel hinauskommen und verloren in der ersten Runde der Playoffs in einer Zitterpartie, wie Mrs. Clausen das nannte, gegen San Francisco. »Dabei dachte Otto, wir hätten die 49ers jederzeit im Sack«, sagte Doris. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich schon um ein Neugeborenes zu kümmern. Mittlerweile nahm sie die Niederlagen von Green Bay gelassener, als sie und Otto das je getan hatten.
    Es war ein kräftiges Baby, ein Junge - 4310 Gramm -, und er war so lange überfällig, daß man erwogen hatte, die Wehen einzuleiten. Mrs. Clausen wollte nichts davon

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