Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
ganz dicht dran!« »Wir bewegen uns da auf unbekanntem Terrain«, erwiderte Zajac. Der Doktor und Irma hatten am Abend zuvor ein Video mit dem beklagenswerten Titel Unbekanntes Terrain gesehen. »Wir wissen nur, daß Sie sich immer noch im Bereich von fünfzig Prozent Wahrscheinlichkeit bewegen.«
    »Fünfzig Prozent Wahrscheinlichkeit wofür?« fragte Patrick. »Abstoßung oder Toleranz, Kumpel«, sagte Zajac. »Kumpel« war Irmas neuer Name für Medea.
    Man mußte die Hand abnehmen, ehe Mrs. Clausen, die das Baby und ihre Mutter mitbrachte, in Boston eintraf. Ein großer Abschied sei nicht drin, mußte Dr. Zajac ihr sagen - die Hand war zu häßlich. Wallingford ging es einigermaßen gut, als Doris ihn im Krankenhaus besuchte. Er hatte zwar Schmerzen, aber sie waren nicht mit den Schmerzen nach der Transplantation vergleichbar. Auch betrauerte er nicht den abermaligen Verlust seiner Hand - er fürchtete vielmehr, Mrs. Clausen zu verlieren.
    »Aber du kannst mich und den kleinen Otto trotzdem besuchen kommen«, versicherte ihm Doris. »Über einen Besuch von Zeit zu Zeit würden wir uns freuen. Du hast versucht, Ottos Hand zu einem Leben zu verhelfen!« rief sie. »Du hast dein Bestes gegeben. Ich bin stolz auf dich, Patrick.«
    Diesmal achtete sie nicht auf den riesigen Verband, der so groß war, daß es aussah, als befände sich womöglich noch immer eine Hand darunter. Es gefiel Wallingford, daß Mrs. Clausen seine rechte Hand nahm und sie, wenngleich nur kurz, an ihr Herz drückte, doch litt er zugleich unter der nicht ganz Gewißheit erreichenden Vorahnung, daß sie diese verbleibende Hand vielleicht nie wieder an ihren Busen pressen würde. »Ich bin stolz auf dich... auf das, was du getan hast«, sagte Wallingford; er begann zu weinen.
    »Mit deiner Hilfe«, flüsterte sie und errötete. Sie ließ seine Hand los. »Ich liebe dich, Doris«, sagte Patrick.
    »Aber das geht nicht«, erwiderte sie, nicht unfreundlich. »Das geht einfach nicht.«
    Dr. Zajac hatte keine Erklärung für die Plötzlichkeit der Abstoßung - das heißt, er hatte über das rein Pathologische hinaus nichts zu sagen. Wallingford konnte über das, was geschehen war, nur Vermutungen anstellen. Hatte die Hand gespürt, daß Mrs. Clausens Liebe von ihr auf das Kind überging? Otto hätte vielleicht wissen können, daß seine Hand seiner Frau zu dem Kind verhelfen würde, das sie beide sich so sehr gewünscht hatten, aber wieviel hatte seine Hand gewußt? Wahrscheinlich nichts.
    Wie sich herausstellte, brauchte Wallingford nur ein wenig Zeit, um sich mit dem, was bei den fünfzig Prozent Wahrscheinlichkeit herausgekommen war, abzufinden. Mit Trennung kannte er sich aus - er war selbst schon einmal abgestoßen worden. Die erste Hand zu verlieren war physisch und psychologisch gesehen schwieriger gewesen, als Ottos Hand zu verlieren. Zweifellos hatte Mrs. Clausen dazu beigetragen, daß er Ottos Hand nie ganz als die seine empfunden hatte. (Wir können nur vermuten, was ein Medizinethiker wohl dazu gemeint hätte.) Wenn Wallingford nun versuchte, von dem Cottage am See zu träumen, war nichts mehr da. Nicht der Geruch der Kiefernnadeln, den er sich anfangs mühsam vorgestellt, an den er sich seither jedoch gewöhnt hatte; nicht das Plätschern des Wassers, nicht die Schreie der Seetaucher. Zwar kann man, wie es heißt, in einer amputierten Gliedmaße noch lange nach deren Verlust Schmerzen spüren, aber das war für Patrick Wallingford nicht weiter überraschend. Die Fingerspitzen von Ottos linker Hand, die Mrs. Clausen so leicht berührt hatten, waren ohne Gefühl gewesen; doch Patrick hatte Doris richtig gespürt, wenn die Hand sie berührte. Wenn Wallingford im Schlaf den bandagierten Stumpf zum Gesicht hob, meinte er immer noch Mrs. Clausens Geschlecht an seinen fehlenden Fingern zu riechen. »Schmerzen weg?« hatte sie ihn gefragt.
    Nun verließ ihn der Schmerz nicht mehr; er schien so dauerhaft zu ihm zu gehören wie das Fehlen seiner linken Hand.
    Patrick lag immer noch im Krankenhaus, als am 24. Januar 1999 in Louisville, Kentucky, die erste erfolgreiche Handtransplantation in den Vereinigten Staaten durchgeführt wurde. Der Empfänger, Matthew David Scott aus New Jersey, hatte seine linke Hand dreizehn Jahre zuvor bei einem Unfall mit Feuerwerkskörpern verloren. Laut New York Times »stand plötzlich eine Spenderhand zur Verfügung«. Ein Medizinethiker bezeichnete die Handtransplantation von Louisville als »vertretbares Experiment«;

Weitere Kostenlose Bücher