Die vierte Hand
wissen; sie war stets dafür, der Natur ihren Lauf zu lassen. Bei der Geburt war Wallingford nicht dabei. Das Baby war fast einen Monat alt, ehe Patrick sich in Boston freimachen konnte. Er hätte nie am Thanksgiving Day fliegen dürfen - sein Flug erreichte Green Bay mit Verspätung. Trotzdem kam er noch rechtzeitig an, um sich das vierte Viertel des Spiels der Minnesota Vikings gegen die Dallas Cowboys anzusehen, das Minnesota gewann. (Ein gutes Omen, wie Doris erklärte - Otto hatte die Cowboys nicht leiden können.) Daß es Mrs. Clausen leichter fiel, Wallingford zu sich und dem Neugeborenen nach Hause einzuladen, lag vielleicht daran, daß ihre Mutter bei ihr wohnte, um ihr mit Otto junior zu helfen.
Patrick gab sich alle Mühe, die Details jenes Hauses zu vergessen - zum Beispiel all die Bilder von Otto senior, Fotografische Belege dafür zu bekommen, daß Otto senior und Doris sehr aneinander gehangen hatten, war nicht überraschend - das hatte sie Wallingford schon erzählt -, aber die Hochzeitsfotos der Clausens konnte er schier nicht ertragen. Sie verrieten nicht nur ihre offenkundige, dem Moment entspringende Freude, sondern auch ihr vorweggenommenes Glück - ihre unerschütterliche Erwartung einer gemeinsamen Zukunft und eines Kindes in jener Zukunft. Und wo waren die Bilder aufgenommen, die Wallingford so zu fesseln vermochten? Weder in Appleton noch in Green Bay, sondern natürlich bei der Hütte am See! Bei dem verwitterten Steg, dem einsamen, dunklen Wasser, den dunklen, unvergänglichen Kiefern. Es gab auch ein Foto von der im Bau befindlichen Wohnung über dem Bootshaus und von Ottos Badehose und Doris' Badeanzug, die im Sonnenlicht auf dem Bootssteg trockneten. Bestimmt hatte das Wasser gegen die schaukelnden Boote geplätschert, und es mußte auch - zumal vor einem Unwetter - gegen den Bootssteg geklatscht sein. Patrick hatte es oft gehört.
Er erkannte in den Fotos den Ursprung des immer wiederkehrenden Traums, der nicht ganz der seine war. Und diesem Traum lag stets der andere zugrunde, der, den jene die Zukunft enthüllende Pille hervorgerufen hatte - jener feuchteste aller feuchten Träume, erzeugt von dem mittlerweile verbotenen, namenlosen indischen Schmerzmittel. Bei der Betrachtung der Fotos ging Wallingford allmählich auf, daß es nicht der »unmännliche« Verlust seiner Hand war, der seine Exfrau endgültig gegen ihn aufgebracht hatte; vielmehr hatte er sie schon mit seiner Weigerung, Kinder zu haben, verloren. Wie ihm nun klar wurde, war die Vaterschaftsklage, auch wenn sie sich als unbegründet erwies, die bitterste Pille, die Marilyn je hatte schlucken müssen. Sie hatte Kinder gewollt. Wie hatte er die Unbedingtheit dieses Wunsches unterschätzen können?
Nun, da er Otto junior im Arm hielt, fragte sich Wallingford, wie er so etwas nicht hatte wollen können. Sein eigenes Kind in den Armen zu halten!
Er weinte. Doris und ihre Mutter weinten mit ihm. Dann stellten sie die Tränen ab, weil das Nachrichtenteam des internationalen 24-Stunden-Senders anwesend war. Obwohl man nicht ihm die Story zugeteilt hatte, hätte Wallingford sämtliche Einstellungen vorhersagen können. »Mach eine Nahaufnahme von der Hand, vielleicht von dem Baby mit der Hand«, hörte Patrick einen seiner Kollegen sagen. »Sieh zu, daß du die Mutter, die Hand und das Baby zusammen draufkriegst.« Und später, in scharfem Ton zum Kameramann: »Mir egal, ob Patricks Kopf im Bild ist, Hauptsache, seine Hand ist drauf!«
Auf dem Rückflug nach Boston erinnerte sich Wallinglord, wie glücklich Doris ausgesehen hatte; er betete selten, aber nun betete er für die Gesundheit von Otto junior. Ihm war nicht klar gewesen, daß die Handtransplantation ihn gefühlsmäßig so bewegen würde, aber er wußte auch, daß es nicht bloß an der Hand lag.
Dr. Zajac hatte ihn gewarnt, daß jeder Rückgang seiner langsam erworbenen Geschicklichkeit Anzeichen einer Abstoßungsreaktion sein konnte. Eine Abstoßungsreaktion könne auch in der Haut erfolgen. Das zu hören hatte Patrick überrascht. Er hatte immer gewußt, daß sein Immunsystem die neue Hand zerstören konnte, aber warum Haut? Es gab doch offenbar so viele wichtigere innere Funktionen, die versagen konnten. »Haut ist eine schwierige Kiste«, hatte Dr. Zajac gesagt. »Schwierige Kiste« war zweifellos ein Irmismus. Irma und Zajac, den sie Nicky nannte, hatten angefangen, Videos auszuleihen und sie abends im Bett anzuschauen. Im Bett zu liegen hatte noch andere
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