Die vierte Zeugin
Titel:
Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
,
Peter Prange
,
Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg
nach vorne zum Richtertisch zu stürzen. Ihr Anwalt sprang ebenfalls auf, hielt sie am Arm zurück, sprach beruhigend auf sie ein. Sie schüttelte seinen Arm ab und rief: »Wie könnt Ihr eine solch ungeheuerliche Vermutung aussprechen!«
Es wurde laut im Saal, Hauser donnerte: »Ruhe!«
Stingin war ganz benommen, ihr Blick zuckte von Frau Imhoff zum Richter und wieder zurück. Die Qual, die im Gesicht ihrer Herrin geschrieben stand, als sie sich auf Drängen ihres Anwalts wieder setzte, empfand sie mit ihr. Wie konnte der Richter annehmen, dass ein schwaches Weib imstande war, seinen Mann umzubringen?
In schneidend scharfem Ton wiederholte er seine Frage, und Stingin sah ihn an. »Keinesfalls!«, antwortete sie fest. »Dazu ist Frau Imhoff gar nicht fähig! Zudem war sie im Hause eingesperrt, als ihr Gemahl zu Tode kam!«
»Eingesperrt – ja«, schnarrte Hauser. »Das enthebt sie jedoch nicht der Möglichkeit, einen Mörder zu dingen.« Er wedelte mit der Hand durch die Luft, dass sein goldener Ring im Kerzenschein blitzte, und bemerkte: »Sie könnte veranlasst haben, dass man ihren Mann tötet.«
»Doch so etwas nicht! Nie im Leben!«, rief Stingin.
»Und weshalb nicht? Schildere, was du über den Hergang weißt.«
Oh, lieber Jesus, hilf! Jetzt also auch noch das! Diesen schauderhaften dritten September würde sie sicher nie im Leben vergessen können. Sie war wie gelähmt gewesen, hatte sich die Ohren zugehalten und nicht gewagt einzugreifen. Wie auch? Was hätte sie schon ausrichten können? Sie hatte solche Angst vor Andreas Imhoff, wenn er so war wie ihr Vater damals. So laut, unberechenbar, mit stechendem Blick und so breit und stark, dass man nicht entkommen konnte, wenn er einen in den Fängen hatte.
»Nun?«
»So schlimm wie an diesem Tag war es noch nie. Ich habe ihn bis in meine Kammer wüten hören. Frau Imhoff schrie und jammerte!«
Mäntel raschelten, Kleidung knisterte.
Stingin sah zu Boden. Was hätte sie tun können, schwach wie sie war? Er hätte sie ebenfalls geschlagen. Wie schon einmal, als sie vom Alten Markt zurückgekommen war, den vollen Korb unbedacht am Boden abgestellt hatte und er darüber gestolpert war.
»Ja?«
»Auch das Kind. Sie stritten. Sicher schlug er sie. Beide. Wie so oft.« Stingin spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Im Saal war es mucksmäuschenstill. Sie wischte mit dem Handrücken über die Augen.
»Hörten die Nachbarn denn nichts?«, wollte der Richter wissen.
Das hatte sie sich auch oft gefragt. Vielleicht wollten sie es nicht hören. Oder vielleicht vernahmen sie wirklich nichts, denn meist senkte er die Stimme, um niemandem Anlass zu geben, nach dem Geschrei zu fragen. Bedrohte leise. Was Stingin ebenso ängstigte, wie wenn er brüllte. Da schwieg man schnell still, um ihn nicht noch mehr zu reizen.
Sie sagte: »Draußen machte er ein gutes Gesicht. Gab sich leutselig und freundlich. Er konnte so einnehmend wirken! Aber an diesem schrecklichen Tag tobte er so laut, dass ich meinte, die Sternengasse müsse zusammenlaufen. Doch nichts geschah.«
»Du hast nichts gesehen? Nur gehört?«
»Ja, Hoher Rat.« Noch einmal wischte sie sich über die Augen, und leise ergänzte sie: »Ich hatte solche Angst.«
»Hast du verstanden, worüber sie stritten?«
»Vielleicht weil sie es wagte, ihm zu sagen, dass sie ihn verlassen würde. Er polterte: ›Gehen lassen?!‹ Lachte laut auf, nicht echt. Fragte, wohin sie denn wolle. Sagte böse Wörter, und das Kind wimmerte.«
Die Stille im Saal tönte laut in Stingins Ohren. In ihr hallten die Schreie wider.
»Wie lange ging das?«
Stingin schüttelte den Kopf, zuckte die Schultern. »Ganz so wie Sophie allzeit schlich ich auf den Dachboden, weil der Streit immer schlimmer wurde, schlimmer als jemals zuvor, genau wie das Wehklagen. Dort kauerte ich, starr vor Angst, hielt die Ohren zu, betete.«
Wieder verstummte sie, weil die Erinnerung sie von innen aufzufressen drohte. Es war ja nicht nur die Pein um die Herrin und das Kind, es war so viel mehr und steckte so tief in ihr, dass sie wünschte, sie wäre gefühl- und gehörlos angesichts dieses Leids, das in ihr saß wie ein monströser Dämon und nicht wegging.
Die Stimme des Richters klang mit einem Mal einfühlsamer, als er fragte: »Und dann?«
»Später war es still«, begann sie. »So still. Aber ich wagte nicht hinunterzugehen. Ich hatte solche Angst, was ich sehen würde.«
»Aber irgendwann musst du doch nach unten gegangen
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