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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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weinend in der Küche vorgefunden. Vor sich hingeschluchzt hat sie, dass sie sich trennen müsse von dem garstigen Mann, der ihr nichts als Unbilden beschere. Viele Jahre habe sie erduldet, was er ihr auftrug, sei folgsam gewesen, ganz so, wie es sich für ein ordentliches Eheweib gehöre. Habe glanzvolle Feste ausgerichtet und das Haus hübsch gestaltet. Doch was bedeute all dies, wenn der Gemahl grausam war und das Zusammensein mit ihm jeglichen freundlichen Tons entbehre? Am meisten aber hat meine Herrin darunter gelitten, dass sie ihr kleines Mädchen nicht vor der Bosheit des Vaters schützen konnte. Das arme Kind!«
    Stingin hielt inne, verwundert über diesen Redeschwall, der aus ihr hervorgebrochen war, ohne dass sie ihn hätte lenken können. Ganz aufgewühlt war sie davon, und es hörte nicht auf, denn mehr denn je wurde ihr quälend deutlich, wie sehr Sophies Schicksal dem ihren glich. Auch ihr eigener Vater hatte sie geschlagen. Mehr noch. Er hatte Dinge getan, für die sie sich schämen musste. Jäh brach ein Schluchzen aus ihrer Kehle. Die Erinnerung kehrte zurück. Sie konnte sie die meiste Zeit über im Zaum halten, konnte damit leben im tagtäglichen Tun, im Beten. Doch durch die Geschehnisse jetzt, die Aussage, die sie machen musste, wurde Stingin schmerzhaft bewusst, dass sie sie niemals zur Gänze würde vertreiben können. Sie presste die Hand auf den Mund, um das erneute Schluchzen zu unterdrücken.
    »Magd Bruwiler, mäßige dich und fahre mit deiner Ausführung fort!« Die scharfe Stimme des Richters riss sie aus den Gedanken.
    »Er hat sie geprügelt«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Mehr als einmal. Nie werde ich vergessen, wie er so fest zuschlug, dass Frau Imhoff gegen die Türeinfassung stürzte, und wie er das Kind mit einem Prankenhieb zur Seite fegte, dass es wie tot unter dem Fenster liegen blieb. Manchmal hat es das Mädchen geschafft und sich außer Reichweite gebracht. Hat sich auf den Dachboden geflüchtet. Verkrochen hat sie sich dort unter der Schräge, und bisweilen bin ich ihr hinaufgefolgt und habe sie zu trösten versucht.« Ihr versagte die Stimme. Weinte Frau Imhoff? Stingin wandte sich zu ihr um. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. »Es tut mir so leid!«, sagte sie zu ihrer Herrin, doch diese schien es nicht wahrzunehmen.
    Stingin drehte sich wieder dem Richter zu, und wie von selbst flossen die Worte aus ihr heraus: »Mit der Zeit haben das Mädchen und ich auch dort oben gesessen, wenn es keinen Streit gab und es im Hause ruhig war. Das zarte Engelchen mit dem blonden Haar. In sich gekehrt war das arme Ding, klammerte sich an die Mutter. In ihren wachen grünen Augen konnte ich so oft die Angst um diese lesen!« Ein Aufschluchzen im Saal. Stingin fuhr herum, blickte geradewegs in die kummervollen Augen ihrer Herrin, die die Hand auf den Mund presste. Gleichzeitig erinnerte sie sich an die Stimme Sophies, als sie dem Haus seinen Namen gegeben hatten: »
Wolkenburg
, weil es im Dachgeschoss, hoch oben über allem, so schön ist wie auf den Wolken im Himmel«, hatte das Mädchen gesagt. »Ja«, hatte Stingin erwidert, »so schön wie im Himmel beim süßen Herrn Jesus.« Und weil das Haus auf sie, trotz des Gezänks ihrer Dienstleute, sicherer wirkte als alles, was sie je kennengelernt hatte, hatte sie angefügt: »Und weil Er uns behütet, sind wir hier geschützt wie in einer Burg. Hier oben kann dir nichts geschehen.«
    Mit einem Mal kam ihr das Eselslied in den Sinn, das sie Sophie dort immer vorgesungen hatte – eine alte Weise, die von Gefühl, Mitleid und Mut handelte. Stingin spürte der Hoffnung nach, die die Erinnerungen in ihr wachriefen. Das Haus war eine Burg, die es zu erhalten galt! Es durfte nicht verkauft werden. Das würde ihre Aussage aufzeigen.
    »Was du da sagst, legt eine neue Betrachtungsweise nahe«, vernahm sie Richter Hausers Stimme. Sein Augenspiel war bedeutungsvoll, als er die ehrsamen Schöffen auf den Bänken nacheinander ansah. Schließlich heftete er seinen bohrenden Blick wieder auf Stingin und fragte streng: »Ist es für dich denkbar, dass Agnes Imhoff ihren Gemahl unter diesen Umständen loszuwerden gedachte?«
    Was meinte der Richter damit?
    »Könnte sie ihren Mann umgebracht haben?«, setzte Hauser nach.
    Ein Schrei gellte durch den Saal, Stingin fuhr erneut herum. Frau Imhoff war aufgesprungen, das blanke Entsetzen stand ihr im geröteten Gesicht. Sie hatte die Hände in ihre Röcke gekrallt und machte Anstalten,

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