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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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sich um. Erbitterung und Zorn lagen auf den sonst so freundlichen Zügen ihrer Herrin. Doch diesmal beugte sie sich dem auf sie einflüsternden Anwalt, sie sprang nicht auf, auch wenn ihr dies offensichtlich schwerfiel.
    »Leider wirft dies kein gutes Licht auf Eure Herrin«, fuhr Hauser fort.
    »Warum?«, fragte Stingin verwundert.
    »Der einäugige Clewin ist dafür bekannt, für Geld alles zu tun.«
    Entsetzen packte sie. Was hatte das zu bedeuten? Plötzlich schienen ihr die Räte und Schöffen nicht mehr lauter und sachlich. Wie schwarze Krähen saßen sie dort am Richtertisch und schienen auf eine Aussage zu lauern, die ihre Herrin belastete. Glaubte der Richter wirklich, dass sie ihren Mann hatte umbringen lassen? War es das, was man ihr vorzuwerfen gedachte? Die schwarzweißen Fliesen des Gerichtssaals schienen sich unter Stingins Füßen zu verschieben, sie fasste sich an die Stirn. Laut barst ein Holzscheit im Kamin, und jäh meinte sie, von Hitze erfasst zu werden. Gedanken und Gesichter purzelten in ihrem Kopf durcheinander. Das liebliche Antlitz ihrer Herrin, ihre schreienden Augen, der zornesrote Fratzenkopf ihres Mannes, der lärmende Engländer. Was, wenn der etwas mit dem Tod des Herrn Imhoff zu tun hatte? Immerhin hatte er ihn zu Hause aufgesucht und arg mit ihm gestritten! Und weil er sich rächen wollte, fiel das Übel auf dessen Gemahlin zurück. Dieser grässliche Mensch. Stingin wünschte sich weit weg von alldem, hoch hinauf, höher als das Dachgeschoss der
Wolkenburg
.
    »Hast du noch etwas anzufügen, Magd Bruwiler?«, fragte der Richter.
    Stingin überlegte. Hatte sie alles gesagt? Sie wusste es nicht mehr. Bestimmt hatte sie zu viel gesagt. Oder doch zu wenig? Sie mühte sich, ihre Stimme kraftvoll klingen zu lassen, und sagte: »Alles, was ich weiß, habe ich dargelegt. Agnes Imhoff ist eine tugendsame Frau, sie ist gütig und fromm, und ich weiß, dass sie ihr Los tapfer zu tragen vermag. Wer glaubt, sie sei zu bösem Tun fähig, irrt. Das ist alles.«
    Richter Hauser nickte, bedachte den Schreiber mit einem raschen Seitenblick, ehe er sagte: »Magd Bruwiler, wir danken dir. Deine Aussage wurde protokolliert. Du kannst gehen.«

KAPITEL 7

14. 11. 1534

    Dritter Verhandlungstag

    D ie alte Magd stellte sich ihm in den Weg und versuchte, ihn daran zu hindern, hinaus auf den Hühnerhof zu treten. »Was sollen Hochwürden davon halten!«
    »Wovon?«
    Sie machte ein Gesicht, als hätte sie Essig geschluckt. »Dass sein Stellvertreter die Hühner füttert.« Sie sah auf den Holzteller mit Körnern in seiner Hand.
    »Nichts denkt er davon. Weil er es nicht weiß.«
    »Und die Nachbarn? Die werden tratschen, dass ich meine Arbeit nicht schaffe.«
    »Das glaube ich kaum.«
    Grete fasste nach dem Teller, aber er hielt ihn fest. Sie versuchte, ihm den Teller zu entwinden, und einige Körner fielen zu Boden. »Ich flehe Euch an, denkt an Euren Ruf!«
    »Es ist wirklich unnötig, dass wir hier so streiten.« Er versuchte, sich an ihr vorbeizuzwängen. Ihr dicker Leib verhinderte es: Zuerst gab er nach wie ein weiches Kissen, dann hielt er aber stand. Adolf roch den Dunst von Schweiß, der ihrem grauen Wollkittel entstieg.
    »Das ist Arbeit für eine Magd.« Sie klang, als würde sie gleich zu weinen beginnen. »Es ist Eurer unwürdig, Herr!«
    »Jetzt reicht es«, sagte er streng. »Unwürdig ist, dass wir hier stehen und um einen Teller mit Körnern zanken. Bin ich der Herr im Haus oder du?«
    »Ihr seid es.« Sie senkte den Kopf.
    »Du gehst jetzt hinein und bereitest die Stube für die Ankunft meiner Schwester vor. Sie soll es warm haben, entfache ein Feuer im Kamin.«
    Wortlos verließ ihn die Magd.
    Natürlich hatte sie Recht, es war seiner unwürdig, dass er die Hühner fütterte. Er hatte eine Ausflucht gesucht. Alles überforderte ihn: die Dimissorien, die er im Auftrag des Erzbischofs auszustellen hatte, das Teilen und Vereinigen, Auflösen und Errichten von Pfarrpfründen, außerdem war die Provinzialsynode vorzubereiten, und der angeforderte Bericht über den Zustand der Kirchenprovinz hätte längst nach Rom gehen müssen.
    Nein, es war etwas anderes, das ihn innerlich auszehrte. Das Leid der armen Agnes nahm ihn mit, mehr, als er sich eingestehen wollte. Es war ungerecht, wie mit ihr verfahren wurde. Wochenlang hatte er versucht, ihr Schicksal zu verdrängen, und dann war heute Morgen dieser Brief gekommen. Der kleine Pergamentfetzen wog Tonnen an seiner Brust, er trug ihn wie eine

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