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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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geargwöhnt, dass Rumi eine dunkle Seite besaß, die eines Tages ans Licht treten würde. Dass er sich aber dem Alkohol zuwenden würde, hatte nicht einmal ich erwartet und empfand es als abgrundtief widerwärtig. Schams, heißt es allerorten, sei der Hauptgrund für Rumis Niedergang; wäre er nicht mehr da, würde Rumi wieder so werden wie früher. Ich bin da anderer Ansicht. Ich bezweifle zwar nicht, dass Schams ein böser Mensch ist – das ist er sehr wohl – oder einen schlechten Einfluss auf Rumi ausübt – das tut er durchaus –, aber man muss sich doch fragen, warum Schams keine anderen Gelehrten, mich beispielsweise, auf Abwege zu führen vermag. Letztlich ähneln sich die beiden mehr, als die Leute wahrhaben wollen.
    Einige haben Schams sagen hören: »Ein Gelehrter lebt von den Strichen einer Feder. Ein Sufi lebt von Fußstapfen und liebt Fußstapfen!« Was will uns das sagen? Offenbar meint Schams damit, dass die Gelehrten reden, während die Sufis handeln. Aber auch Rumi ist ein Gelehrter! Oder empfindet er sich nicht mehr als einer von uns?
    Sollte Schams jemals meinen Unterrichtsraum betreten, werde ich ihn verscheuchen wie eine Fliege und ihm niemals Gelegenheit geben, in meiner Gegenwart sein Geschwätz zu verbreiten. Warum kann Rumi das nicht auch tun? Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Das fängt schon damit an, dass der Mann mit einer Christin verheiratet ist. Dass sie zum Islam übergetreten ist, zählt für mich nicht. Es ist nun einmal in ihrem Blut und im Blut ihres Kindes. Leider nehmen die Stadtbewohner die Gefahr des Christentums nicht so ernst, wie sie sollten, und denken, wir könnten Seite an Seite miteinander leben. Zu denen, die so einfältig sind, sage ich immer: »Können sich Wasser und Öl jemals vermischen? Genauso ist es mit den Moslems und den Christen!«
    Mit seiner christlichen Ehefrau und seiner allbekannten Milde gegenüber Minderheiten war Rumi in meinen Augen immer schon unzuverlässig, aber als Schams-e Tabrizi unter sein Dach zog, kam er ganz und gar vom rechten Weg ab. Jeden Tag sage ich meinen Studenten, dass man sich vor Schaitan hüten muss. Und Schams ist der menschgewordene Teufel. Bestimmt war es seine Idee, Rumi in die Schenke zu schicken. Gott weiß, wie er ihn dazu überredet hat. Aber ist es nicht gerade die große Stärke des Teufels, rechtschaffene Menschen zu Freveltaten zu verführen?
    Ich habe Schams’ böse Seite von Anfang an erkannt. Wie kann er es wagen, den Propheten Mohammed, Friede sei auf ihm, mit dem glaubenslosen Sufi Bistami zu vergleichen? Immerhin hat Bistami verkündet: »Seht mich an! Wie groß ist mein Ruhm!« Und behauptet: »Ich habe gesehen, dass die Kaaba mich umrundet hat!« Er ging sogar so weit zu erklären: »Ich bin der Schmied meines eigenen Selbst!« Wenn das nicht gotteslästerlich ist, was dann? In diesen Niederungen wandelt der Mann, den Schams mit Hochachtung zitiert. Aber auch er ist eben, genau wie Bistami, ein Ketzer.
    Nur gut, dass die Leute allmählich aufwachen und die Wahrheit erkennen. Endlich! Mit jedem Tag wächst die Zahl von Schams’ Kritikern. In den Badehäusern und Teehäusern, auf den Weizenfeldern und in den Obstgärten zerreißen ihn die Leute schon in der Luft.
    Später als sonst und den Kopf voll mit solchen Gedanken traf ich in der Madrasa ein. Kaum hatte ich die Tür zu meinem Unterrichtsraum geöffnet, spürte ich, dass etwas Ungewöhnliches im Gange war. Meine Schüler saßen in einer schnurgeraden Reihe nebeneinander und waren blass und merkwürdig still, so als hätten sie einen Geist gesehen.
    Und dann wurde mir klar, warum. Neben dem offenen Fenster, den Rücken an die Wand gelehnt, das haarlose Gesicht von einem überheblichen Lächeln erhellt, saß niemand anderer als Schams-e Tabrizi.
    »As-salamu alaikum, Scheich Jassin«, sagte er und musterte mich über den ganzen Raum hinweg.
    Ich zögerte. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn begrüßen sollte, beschloss dann aber, es nicht zu tun, sondern wandte mich an meine Schüler und fragte: »Was hat dieser Mann hier zu suchen? Warum habt ihr ihn hereingelassen?«
    Die jungen Leute waren ganz benommen und verlegen, und keiner traute sich zu antworten. Schließlich brach Schams selbst das Schweigen.
    In frechem Ton, den Blick unverwandt auf mich gerichtet, sagte er: »Du darfst sie nicht schelten, Scheich Jassin. Es war meine Idee. Ich war gerade in der Nähe, und da sagte ich mir: ›Schau doch einmal in der Madrasa vorbei und statte dem einen

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