Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
fällen.«
»Wie lautet demnach deine Antwort?«, fragte mich Scheich Jassin, der das Gespräch mit einem Mal sehr aufmerksam verfolgte.
»Meine Antwort lautet folgendermaßen: Obwohl alle vier Händler aus ähnlichen Gründen falsch gehandelt haben, dürfen wir keinen von ihnen eines Unrechts bezichtigen, denn letztlich steht es uns nicht zu, über sie zu urteilen.«
Schams-e Tabrizi ging einen Schritt auf mich zu und sah mich so freundlich und liebevoll an, dass ich mir vorkam wie ein kleiner Junge, der die bedingungslose Liebe seines Vaters oder seiner Mutter genießt. Er fragte mich nach meinem Namen und sagte, nachdem ich ihn genannt hatte: »Euer Freund Husam hat ein wahres Sufi-Herz.«
Ich lief rot an. Nach dem Unterricht, das war mir klar, würde mich Scheich Jassin tadeln, und meine Freunde würden mich mit Spott und Häme überschütten. Doch meine Ängste wurden schnell zerstreut. Ich setzte mich aufrecht hin und lächelte Schams an. Er zwinkerte mir zu und fuhr, weiter lächelnd, mit seiner Rede fort.
»Der Sufi sagt: ›Ich sollte mich besser um meine innere Begegnung mit Gott kümmern, als über andere Menschen zu urteilen.‹ Ein strenggläubiger Gelehrter hält dagegen ständig Ausschau nach den Fehlern anderer. Aber das dürft ihr nie vergessen, Schüler: Wer sich über andere beklagt, hat meist selbst unrecht.«
»Verwirr mir meine Schüler nicht!«, rief Scheich Jassin. »Wir Gelehrte können es uns nicht leisten, über die Taten anderer hinwegzusehen. Die Leute stellen uns viele Fragen und erwarten vernünftige Antworten, damit sie ihren Glauben in vollem Umfang und den Regeln gemäß ausüben können. Ich werde beispielsweise gefragt, ob die Waschung wiederholt werden soll, wenn man Nasenbluten bekommt, oder ob es richtig ist, auf Reisen zu fasten. In diesen Dingen unterscheiden sich die Lehren der Schafiiten, Hanafiten, Hanbaliten und Malikiten. Jede Rechtsschule hat ihre eigenen jede Einzelheit bedenkenden Antworten, die studiert und gelernt werden müssen!«
»Schon gut, aber weshalb klammert ihr euch so sehr noch an die kleinsten Unterschiede?« Schams seufzte. »Der göttliche Logos ist vollkommen. Warum also auf Kosten des Ganzen nach den Einzelheiten greifen?«
»Einzelheiten?«, wiederholte Scheich Jassin fassungslos. »Gläubige nehmen die Gebote nun einmal ernst. Und wir Gelehrte leiten sie in ihren Bemühungen an.«
»Leitet sie ruhig weiter an – allerdings nur, wenn ihr dabei nicht vergesst, dass eure Anleitung ihre Grenzen hat und kein Wort über dem Wort Gottes steht«, erwiderte Schams und fügte hinzu: »Aber predigt nicht denen, die Erleuchtung erfahren haben. Denn sie finden einen anders gearteten Genuss in den Suren des Koran und bedürfen keiner Anleitung durch einen Scheich.«
Da wurde Scheich Jassin so wütend, dass seine welken Wangen hochrot anliefen und sein Adamsapfel weit hervortrat. »Unsere Anleitung ist doch kein Behelf!«, rief er. »Die Scharia legt die Regeln und Vorschriften fest, die jeder Moslem von der Wiege bis zur Bahre einzuhalten hat!«
»Die Scharia ist nur ein Boot, das auf dem Meer der Wahrheit segelt. Wer Gott wirklich sucht, wird es früher oder später verlassen und ins Wasser springen.«
»Ja, damit ihn die Haie fressen!«, entgegnete Scheich Jassin kichernd. »Genau das nämlich geschieht mit dem, der sich der Anleitung verweigert.«
Einige Schüler begannen ebenfalls zu kichern, aber wir anderen saßen schweigend da und fühlten uns zunehmend unbehaglich. Das Ende der Unterrichtsstunde nahte, und ich verlor die Hoffnung, dass dieses Gespräch noch gut ausgehen würde.
Schams-e Tabrizi hegte offenbar dieselbe Befürchtung, denn er wirkte plötzlich nachdenklich, ja fast verzweifelt. Er schloss die Augen, als hätte ihn das viele Reden erschöpft, aber er tat es so unauffällig, dass man es kaum merkte.
»Ich habe schon viele Scheichs kennengelernt auf meinen Reisen«, sagte er. »Bei manchen handelte es sich um aufrichtige Männer, aber einige waren herablassend und wussten nicht das Geringste über den Islam. Ich würde den Staub auf den alten Schuhen eines Menschen, der Gott wirklich liebt, nicht gegen die Köpfe der Scheichs von heute tauschen. Selbst Schattenspieler, die hinter einem Vorhang Bilder entstehen lassen, sind besser als diese Scheichs, weil sie wenigstens zugeben, dass sie nur Trugbilder erzeugen.«
»Jetzt reicht es! Wir haben genug von deiner gespaltenen Zunge gehört«, verkündete Scheich Jassin. »Verlass
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