Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
zu verführen versucht … Schaitan kann Gestalten annehmen, die man nicht erwarten würde – zum Beispiel die eines Wanderderwischs.«
Schams schenkte ihm ein wissendes Lächeln, so als hätte er mit dieser Bemerkung gerechnet. »Ich verstehe. Die Menschen empfinden es offenbar als große Erleichterung und als recht nützlich, den Teufel immer nur außerhalb von sich selbst zu sehen.«
»Was soll das heißen?«, fragte Scheich Jassin.
»Nun, wenn Schaitan so niederträchtig und unbezwingbar ist, wie du behauptest, brauchen wir uns nie selbst die Schuld an unseren Übeltaten zu geben. Alles Gute sprechen wir Gott zu, und alles Schlechte im Leben wird dem Teufel angehängt. Auf diese Weise sind wir in jedem Fall aller Kritik und Selbstprüfung enthoben. So einfach ist das!«
Während Schams weitersprach, begann er im Zimmer umherzugehen, und seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter. »Aber stellen wir uns einen Moment lang vor, es gäbe keinen Schaitan und keine Dämonen, die nur darauf warten, uns in Kesseln über dem Feuer zu sieden. Diese schaurigen Bilder wurden entworfen, um etwas zu veranschaulichen; doch dann nutzten sie sich immer mehr ab, und das, was sie ursprünglich ausdrückten, ging verloren.«
»Und was, bitte sehr, drückten sie ursprünglich aus?«, fragte Scheich Jassin entnervt und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ah, du hast also doch noch Fragen!«, sagte Schams. »Sie sollten veranschaulichen, dass ein Mensch sich selbst endlose Qualen zufügen kann. Die Hölle ist in uns, aber der Himmel ebenfalls. Der Koran bezeichnet die Menschen als die ehrwürdigsten Wesen. Wir stehen höher als die höchsten, aber auch tiefer als die niedrigsten Geschöpfe. Wenn wir das in seiner ganzen Bedeutung erkennen würden, bräuchten wir Schaitan nicht mehr außerhalb von uns zu suchen und könnten uns stattdessen selbst betrachten. Wir müssen uns ehrlich selbst befragen, anstatt nach den Fehlern anderer Ausschau zu halten.«
»Dann befrag dich selbst – und inschallah, irgendwann wirst du dich reingewaschen haben«, erwiderte Scheich Jassin. »Aber ein guter Gelehrter muss seine Gemeinde nun einmal im Auge behalten!«
»Lass mich eine Geschichte erzählen«, sagte Schams in so liebenswürdigem Tonfall, dass wir nicht wussten, ob er es ehrlich meinte oder sich lustig machte.
Dann erzählte er uns Folgendes:
Vier Händler beteten in der Moschee, als plötzlich der Muezzin eintrat. Der erste Händler unterbrach sein Gebet und fragte: »Muezzin, wurde schon zum Gebet gerufen oder ist noch Zeit?«
Da hörte der zweite Händler auf zu beten und wandte sich zu seinem Freund. »Du hast während des Gebets gesprochen. Jetzt ist es ungültig, und du musst von vorn beginnen!«
Als er das hörte, warf der dritte Händler ein: »Warum tadelst du Dummkopf ihn? Du hättest weiterbeten müssen. Jetzt ist auch dein Gebet ungültig.«
Daraufhin sagte der vierte Händler breit grinsend: »Seht sie euch an! Alle drei haben ihr Gebet verpfuscht. Wie gut, dass ich nicht so töricht bin!«
Nachdem er die Geschichte erzählt hatte, blieb Schams vor uns Schülern stehen und sagte: »Nun, was meint ihr? Welche Gebete der Händler waren eurer Ansicht nach ungültig?«
Im Unterrichtsraum erhob sich ein Gerede über die Antwort, und es wurde ein bisschen unruhig. Schließlich sagte einer, der ganz hinten saß: »Die Gebete des zweiten, des dritten und des vierten Händlers waren ungültig. Der erste Händler dagegen ist unschuldig, denn er wollte dem Muezzin nur eine Frage stellen.«
»Gut, aber er hätte nicht einfach sein Gebet unterbrechen dürfen«, warf Irschad ein. »Es liegt doch auf der Hand, dass alle Händler falsch gehandelt haben – mit Ausnahme des vierten, der nur mit sich selbst sprach.«
Ich senkte den Blick; ich fand beide Antworten falsch, wollte aber den Mund halten. Denn ich ahnte, dass man meine Ansicht nicht gutheißen würde.
Doch kaum war mir dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, da deutete Schams-e Tabrizi auf mich. »Du da drüben – was denkst du über die Sache?«
Ich musste erst einmal schwer schlucken, ehe ich etwas sagen konnte. »Wenn die Händler einen Fehler begangen haben, dann nicht, weil sie während des Gebets sprachen«, sagte ich, »sondern weil ihnen das, was um sie herum vorging, wichtiger war, als sich um ihre Belange zu kümmern und mit Gott in Verbindung zu treten. Denselben grundlegenden Fehler begehen wohl allerdings auch wir, wenn wir ein Urteil über sie
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