Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
mitbekommen?
Die Schande, vom eigenen Vater vor dem Mädchen, das ich zur Frau nehmen wollte, gedemütigt zu werden, schmerzte wie ein Schlag in den Magen und hinterließ einen üblen Geschmack im Mund. Vor meinen Augen drehte sich alles. Es fehlte nicht viel, und ich wäre zusammengebrochen.
Ich ertrug es nicht einen Moment länger. Ich packte meinen Mantel, schob Schams beiseite und stürzte hinaus, nur weg von Kimya, nur weg von ihnen allen.
SCHAMS
KONYA, FEBRUAR 1246
B eerenduft und das Aroma von heißer Erde und wilden Kräutern entströmte den Weinflaschen, die zwischen uns standen. Nach Aladdins Aufbruch war Rumi so traurig, dass er eine Zeit lang nichts sagen konnte. Wir waren in den verschneiten Hof hinausgegangen. Es war einer dieser trüben Februarabende, an denen die Luft schwer und merkwürdig reglos ist. Nun standen wir da, hatten die dahinziehenden Wolken betrachtet und in eine Welt hineingelauscht, die uns nichts als Stille schenkte. Der Wind trug uns den angenehmen, moschussüßen Geruch der fernen Wälder entgegen, und ich glaube, einen Moment lang hätten wir beide die Stadt am liebsten für immer verlassen.
Ich ergriff eine der beiden Flaschen, kniete mich neben einen Kletterrosenstrauch, der dornig und kahl aus dem Schnee ragte, und begann, den Wein auf die Erde darunter auszugießen. Rumis Miene erhellte sich, und er lächelte sein halb nachdenkliches, halb gespanntes Lächeln.
Langsam und wundersam erwachte der kahle Rosenstrauch zum Leben, und seine Rinde wurde weich wie die Haut eines Menschen. Vor unseren Augen entfaltete sich eine einzelne Blüte. Während ich weiter Wein auf die Erde unter dem Strauch goss, nahm die Blüte einen herrlichen warmen orangeroten Farbton an.
Ich nahm die zweite Flasche und schüttete auch ihren Inhalt aus. Das Orangegelb verwandelte sich in ein vor Leben strotzendes Purpurrot. Nur ein wenig Wein war am Boden der Flasche übrig geblieben. Ich goss ihn in ein Glas, trank die Hälfte und reichte den Rest meinem Freund.
Rumi, der noch nie in seinem Leben Alkohol zu sich genommen hatte, begegnete meiner Geste mit strahlender Güte und Gelassenheit gleichermaßen und ergriff das Glas mit zitternden Händen.
»Religiöse Gebote und Verbote sind wichtig«, sagte er, »aber sie dürfen nicht in unhinterfragbare Tabus verwandelt werden. In diesem Wissen trinke ich den Wein, den du mir heute reichst, und glaube von ganzem Herzen, dass jenseits des Trunkenseins vor Liebe Nüchternheit herrscht.«
Kurz bevor er das Glas an die Lippen führte, entriss ich es ihm und warf es zu Boden. Der Wein ergoss sich wie Blutstropfen in den Schnee.
»Nicht trinken!« Die Prüfung war an ihr Ende gekommen.
»Warum hast du mich in die Schenke geschickt, wenn du nie vorhattest, mich den Wein trinken zu lassen?«, fragte Rumi eher mitleidig als neugierig.
»Du weißt, warum«, sagte ich lächelnd. »Spirituelles Wachstum besteht nicht darin, sich zwanghaft mit einzelnen Seiten auseinanderzusetzen, sondern betrifft die Gesamtheit unseres Bewusstseins. Regel Nummer zweiunddreißig: Nichts soll zwischen dir und Gott stehen. Keine Imame, keine Priester, Rabbis oder sonstigen Religionsführer und Wächter der Moral. Keine spirituellen Meister, ja nicht einmal dein Glaube. Sei überzeugt von deinen Werten und deinen Geboten, aber zwinge sie nie einem anderen auf. Eine religiöse Pflicht, mit deren Erfüllung man anderen das Herz bricht, ist unrecht.
Halte dich fern von jeder Form der Götzenverehrung, denn sie trübt den Verstand. Lass dich von Gott, und nur von ihm, leiten. Lerne die Wahrheit kennen, mein Freund, aber sorge dafür, dass deine Wahrheiten dir nicht zum Fetisch werden.«
Ich hatte Rumis Wesen von jeher bewundert und schon immer gewusst, dass seine unendliche, ungewöhnliche Barmherzigkeit das war, was mir im Leben fehlte. An diesem Tag aber war meine Bewunderung für ihn noch um einiges gewachsen.
Die Welt war voller Menschen, die nur nach Reichtum, Anerkennung und Macht trachteten. Je mehr sichtbare Zeichen des Erfolgs sie errangen, umso mehr bedurften sie ihrer. Gierig und begehrlich machten sie die weltlichen Besitztümer zu ihrer Qibla, blickten nur mehr in diese Richtung statt nach Mekka und merkten nicht, dass sie zu Sklaven der Dinge wurden, nach denen sie hungerten. Überall und ständig ging es so. Selten aber, so selten wie Rubine, waren Menschen, die sich bereits Erfolg erarbeitet und überaus viel Gold, Ruhm und Ansehen besaßen, ihre Stellung jedoch von
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