Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Besuch ab, der dich von allen Bewohnern dieser Stadt am meisten hasst!‹«
HUSAM, DER SCHÜLER
KONYA, FEBRUAR 1246
B rav saßen wir alle nebeneinander auf dem Boden des Unterrichtsraums, als die Tür aufging und Schams-e Tabrizi eintrat. Wir waren fassungslos. Wir hatten, vor allem von unserem Lehrer, schon so viele schlimme und abartige Dinge über ihn gehört, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte, als er plötzlich leibhaftig vor uns stand. Er dagegen wirkte locker und freundlich. Nachdem er uns begrüßt hatte, erklärte er, kurz mit Scheich Jassin sprechen zu wollen.
»Unser Lehrer will keine Fremden im Unterrichtsraum. Sie sprechen vielleicht besser ein andermal mit ihm«, sagte ich in der Hoffnung, ein unschönes Aufeinandertreffen verhindern zu können.
»Danke für deine Besorgnis, junger Mann, aber unschöne Begegnungen sind manchmal nicht nur unausweichlich, sondern geradezu notwendig«, erwiderte Schams, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Aber keine Angst – es dauert nicht lange.«
Irschad, der neben mir saß, stieß zwischen den Zähnen hervor: »Der traut sich was! Er ist der leibhaftige Teufel!«
Ich nickte, obwohl ich nicht unbedingt fand, dass Schams wie der Teufel aussah. Sosehr ich auch gegen ihn eingestellt war, gefielen mir doch seine offene Art und seine Verwegenheit.
Ein paar Minuten später betrat Scheich Jassin mit nachdenklich gerunzelter Stirn den Raum. Nach ein paar Schritten schon hielt er inne und blickte mit halb zusammengekniffenen Augen verwirrt zu dem ungebetenen Gast.
»Was hat dieser Mann hier zu suchen? Warum habt ihr ihn hereingelassen?«
Meine Freunde und ich tauschten entsetzte Blicke und angstvoll geflüsterte Worte, aber ehe einer von uns Mut zum Antworten gefunden hatte, plapperte Schams drauflos und meinte, er sei in der Nähe gewesen und habe beschlossen, denjenigen zu besuchen, der ihn von allen Menschen in Konya am meisten hasse!
Einige Mitschüler begannen vor Aufregung zu hüsteln, und Irschad schnappte nach Luft. Die Spannung zwischen den beiden Männern war fast mit Händen zu greifen.
»Ich weiß nicht, was du hier verloren hast, aber ich habe Besseres zu tun, als mit dir zu sprechen«, sagte Scheich Jassin vorwurfsvoll. »Verschwinde, damit wir mit unseren Studien fortfahren können!«
»Du sagst, du willst nicht mit mir sprechen, sprichst aber ständig über mich«, entgegnete Schams. »Du hast ununterbrochen schlecht über Rumi und mich und alle Mystiker auf dem Sufi-Weg geredet.«
Scheich Jassin zog seine große, knochige Nase hoch und schniefte. Dann presste er schmollend die Lippen zusammen, als wäre ihm etwas sauer aufgestoßen. »Ich habe, wie gesagt, nichts mit dir zu besprechen. Ich weiß bereits alles, was ich wissen muss. Ich habe mir die eine oder andere Meinung gebildet.«
Pfeilschnell richtete sich Schams’ spöttischer Blick auf uns. »Ein Mann mit vielen Meinungen, aber ohne eine einzige Frage! Da stimmt doch irgendetwas nicht!«
»Ach, wirklich?«, fragte Scheich Jassin belustigt und ein wenig aufgekratzt. »Fragen wir doch einfach die Schüler, wer von beiden sie lieber wären: der Weise, der die Antworten kennt, oder der Ratlose, der nur Fragen hat!«
Alle meine Freunde schlugen sich auf die Seite von Scheich Jassin, aber ich hatte das Gefühl, dass viele es weniger aus ehrlicher Zustimmung taten als vielmehr, um den Lehrer günstig zu stimmen. Ich selbst beschloss, gar nichts zu sagen.
»Wer alle Antworten zu wissen glaubt, weiß am allerwenigsten«, entgegnete Schams mit abschätzigem Schulterzucken und sagte an unseren Lehrer gewandt: »Aber da du dich ja mit Antworten so gut auskennst, möchte ich dir eine Frage stellen.«
In diesem Moment dachte ich sorgenvoll bei mir, welchen Verlauf das Gespräch wohl nehmen würde. Doch wie hätte ich verhindern sollen, dass die Spannungen noch größer wurden?
»Du behauptest ja, ich sei der Diener des Teufels. Könntest du uns freundlicherweise mitteilen, wie du dir Schaitan genau vorstellst?«, sagte Schams.
»Aber sicher!«, rief Scheich Jassin, der nie eine Gelegenheit zu predigen vorüberstreichen ließ. »Unsere Religion, die letzte und beste der abrahamitischen Religionen, lehrt uns, dass es Schaitan war, dessentwegen Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden. Wir, die Kinder gefallener Eltern, müssen wachsam sein, denn Schaitan erscheint in vielerlei Gestalt. Manchmal als Spieler, der uns zum Glücksspiel überredet, manchmal als schöne junge Frau, die uns
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