Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
buschigen, an den Enden spitz zulaufenden geschwungenen Schnurrbart – der Wirt des Gasthofs. Fast augenblicklich erkannte ich zwei Dinge an ihm: dass er es gewohnt war, anderen Angst einzujagen mit groben Worten und schierer Gewalt, und dass er gerade sehr wütend war.
»Was willst du?«, fragte ich ihn. »Warum ziehst du mich am Arm?«
»Was ich will?«, fuhr der Gastwirt mich böse an. »Fürs Erste will ich, dass du mit dem Geschrei aufhörst! Du vergraulst mir die Gäste!«
»Wirklich? Habe ich geschrien?«, murmelte ich, während ich meinen Arm aus seinem Griff wand.
»Allerdings! Wie ein Bär mit einem Dorn in der Tatze hast du gebrüllt. Was war denn mit dir? Bist du beim Essen eingeschlafen? Das muss ein Alptraum oder so etwas gewesen sein.«
Das war natürlich die einzige überzeugende Erklärung, und wenn ich sie bestätigte, würde der Wirt zufrieden sein und mich in Ruhe lassen. Aber ich wollte nicht lügen.
»Nein, Bruder, ich bin weder eingeschlafen noch hatte ich einen schlechten Traum. Um ehrlich zu sein – ich träume nie.«
»Und warum dann dieses Gebrüll?«, wollte der Wirt wissen.
»Ich hatte eine Vision. Das ist etwas anderes.«
Er sah mich verdutzt an und kaute eine Weile auf seinen Schnurrbartenden herum. Dann sagte er: »Ihr Derwische seid wirklich verrückt, vor allem ihr Wanderkerle. Den ganzen Tag nur fasten und beten und in der sengenden Hitze herumgehen. Kein Wunder, dass du Halluzinationen hast – dein Hirn ist völlig verdörrt!«
Ich lächelte. Vielleicht hatte er ja recht. Sich in Gott zu verlieren ist nicht viel anders, als den Verstand zu verlieren, sagt man.
In diesem Moment kamen zwei Schankburschen daher, die ein mit Platten vollgestelltes riesiges Tablett zwischen sich trugen: frisch gebratenes Zicklein, Klippfisch, kräftig gewürztes Hammelfleisch, Weizenfladen, Kichererbsen mit Fleischbällchen und Linsensuppe mit Schafsschwanzfett. Sie gingen herum, zeigten den Gästen die Speisen und schwängerten den Raum mit dem Duft von Zwiebeln, Knoblauch und Gewürzen. Als sie bei mir stehen blieben, nahm ich mir eine Schüssel mit dampfender Suppe und eine Scheibe dunkles Brot.
»Hast du überhaupt Geld?«, fragte der Wirt in einem herablassenden Ton.
»Nein. Aber ich biete dir einen Tausch an. Als Gegenleistung für Kost und Logis könnte ich deine Träume deuten.«
Der Wirt stemmte die Hände in die Hüften und grinste mich höhnisch an. »Du hast doch gerade behauptet, du würdest nie träumen!«
»Richtig. Ich bin ein Traumdeuter, der selbst nie träumt.«
»Ich sollte dich rausschmeißen. Ich hab’s ja gesagt – ihr Derwische seid völlig verrückt«, fuhr mich der Wirt an. »Jetzt gebe ich dir mal einen Rat: Ich weiß nicht, wie alt du bist, aber du hast bestimmt schon genug für beide Welten gebetet. Such dir eine gute Frau und lass dich irgendwo nieder. Setz Kinder in die Welt. Das hilft, wieder den Boden unter den Füßen zu spüren. Warum die ganze Welt durchstreifen, wenn sowieso überall das gleiche Elend herrscht? Glaub mir – es gibt nichts Neues da draußen. Ich habe Gäste aus den entlegensten Ecken der Welt, aber nach ein paar Gläsern höre ich von allen stets dieselben Geschichten. Die Menschen sind überall gleich. Gleiches Essen, gleiches Wasser, gleicher Mist.«
»Ich suche nichts anderes. Ich suche Gott«, erwiderte ich. »Meine Suche ist eine Suche nach Gott.«
»Dann suchst du Ihn an der falschen Stelle.« Die Stimme des Wirts klang auf einmal belegt. »Gott hat diese Stadt verlassen, und niemand weiß, wann Er zurückkehrt.«
Mein Herz begann zu pochen. »Wer schlecht von Gott spricht, spricht schlecht von sich selbst«, entgegnete ich.
Der Wirt verzog den Mund zu einem seltsam schiefen Lächeln. Ich sah Verbitterung und Unwillen in seinen Zügen, und noch etwas, eine Art kindlichen Schmerz.
»Gott sagt: Ich bin dir näher als deine Halsschlagader«, fuhr ich fort. »Gott ist nicht irgendwo weit oben im Himmel, sondern in jedem Einzelnen von uns. Deshalb wird Er uns nie verlassen. Denn wie sollte Er sich selbst verlassen?«
»Aber es ist so, Er hat uns verlassen«, widersprach der Wirt kühl. »Was würde es denn über Gott aussagen, wenn Er hier wäre und keinen Finger krümmt, obwohl wir hier ein schlimmes Ende nehmen?«
»Das ist die erste Regel, Bruder«, sagte ich. »Unser Bild von Gott spiegelt unser Bild von uns selbst wider. Wenn Gott vor allem Angst und Schuld in uns hervorruft, ist zu viel Angst und Schuld in uns. Wenn
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