Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
missverstanden, beneidet, verunglimpft und schließlich von denen, die ihnen am nächsten standen, verraten. Drei Jahre nach ihrer ersten Begegnung wurden sie auf tragische Weise getrennt.
Doch das bedeutete noch nicht das Ende der Geschichte.
Denn in Wahrheit hörte sie nie auf. Heute, fast achthundert Jahre später, ist der Geist von Schams und Rumi noch immer lebendig und umweht uns alle …
DER MÖRDER
ALEXANDRIA, NOVEMBER 1252
B lut im Brunnen. Tot liegt er nun im dunklen Wasser. Doch sein Blick folgt mir überallhin, der Blick aus diesen glänzenden, beeindruckenden Augen, die wie zwei dunkle Sterne unheilvoll droben am Himmel stehen. Ich kam nach Alexandria in der Hoffnung, der grellen Erinnerung zu entfliehen, wenn ich nur weit genug reiste, und den Klageruf zum Verstummen zu bringen, der in meinem Kopf widerhallt, diesen Schrei, den er ausstieß, bevor sein Gesicht vom Blut überströmt wurde, seine Augen aus den Höhlen traten und seine Kehle sich mitten im letzten Atemzug schloss. Den Abschied eines erstochenen Mannes. Das Heulen eines in die Enge getriebenen Wolfs.
Wenn man tötet, geht etwas vom Opfer auf einen selbst über – ein Seufzer, ein Geruch oder eine Geste. Ich nenne das den »Fluch des Opfers«. Es haftet am eigenen Körper, sickert in die Haut und bis zum Herz und lebt im Inneren fort. Die Leute, die mich auf der Straße sehen, können es nicht wissen, aber ich bin gezeichnet von den Spuren aller Menschen, die ich je getötet habe. Ich trage sie um den Hals wie unsichtbare Ketten, spüre, wie sie auf meiner Haut scheuern und schwer auf mir lasten. Aber so unbehaglich es auch ist, ich habe mit dieser Bürde zu leben gelernt und sie als Teil meines Berufs angenommen. Seit Kain den Abel erschlug, atmet in jedem Mörder der Mensch, den er gemordet hat, das weiß ich genau. Es stört mich nicht. Nicht mehr. Aber warum war ich dann so aufgewühlt nach diesem letzten Mal?
Bei dieser Sache war von Anfang an alles anders. Wie ich an den Auftrag kam, beispielsweise. Oder sollte ich sagen, wie der Auftrag zu mir kam? Im Vorfrühling 1248 arbeitete ich in Konya für einen Bordellwirt, einen für seinen ungezügelten Jähzorn berüchtigten Hermaphroditen. Mir oblag es, die Huren im Griff zu behalten und rüpelhaften Freiern ein wenig Achtung einzubläuen.
Ich erinnere mich noch gut an den Tag. Ich war auf der Jagd nach einer Hure, die aus dem Bordell geflohen war, um Gott zu suchen. Sie war eine schöne junge Frau, was mir irgendwie das Herz zerriss, denn sobald ich sie eingeholt hätte, würde ich ihr Gesicht so zurichten, dass es niemals mehr einem Mann in den Sinn käme, sie anzusehen. Ich hatte die törichte Frau schon fast wieder eingefangen, da entdeckte ich auf meiner Türschwelle einen geheimnisvollen Brief. Weil ich nie lesen gelernt habe, trug ich ihn zur Madrasa und ließ ihn mir gegen Bezahlung von einem Schüler vorlesen.
Der Brief war anonym, unterschrieben »von einigen wahren Gläubigen«.
»Aus zuverlässiger Quelle wissen wir, woher du kommst und wer du in Wirklichkeit bist«, stand in dem Brief. »Ein ehemaliges Mitglied der Assassinen! Noch dazu wissen wir, dass dieser Orden nach dem Tod Hasan-i-Sabbahs und der Einkerkerung eurer Anführer nicht mehr das ist, was er einst war. Du bist nach Konya gekommen, um der Verfolgung zu entgehen, und hast dich von Anfang an in der Kunst der Verstellung geübt.«
In einer äußerst wichtigen Sache, hieß es in dem Schreiben, benötige man dringend meine Dienste. Die Bezahlung würde zu meiner Zufriedenheit ausfallen. Bei Interesse sollte ich mich noch am selben Abend nach Einbruch der Dunkelheit in einer bekannten Schenke einfinden. Dort sollte ich mich an den Tisch gleich beim Fenster setzen, und zwar mit dem Rücken zur Tür, den Kopf gesenkt halten und den Blick auf den Boden richten. Schon nach kurzer Zeit würde sich mein Auftraggeber – oder meine Auftraggeber – einfinden und mich mit allem, was ich wissen müsse, versorgen. Weder bei ihrem Eintreffen noch bei ihrem Weggang und auch nicht während des Gesprächs dürfte ich den Blick heben und ihre Gesichter betrachten.
Der Brief war merkwürdig. Andererseits war ich es gewohnt, mit den Marotten von Kunden umzugehen. Im Lauf der Jahre hatte ich von allen möglichen Leuten Aufträge erhalten, und die meisten wollten ihren Namen verheimlichen. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass der Wunsch, die eigene Person zu verschleiern, umso größer war, je näher das Opfer dem
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