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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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hatte er seine körperlichen Kräfte verdoppelt und bediente sich ihrer im Übermaß.
    Mein Herz schlug schneller, denn ich begann etwas zu erkennen: Erst undeutlich, wie hinter einem Schleier, dann immer klarer entstand vor meinen Augen ein Bild.
    Eine junge Frau mit kastanienbraunem Haar, nackten, schwarz tätowierten Füßen, um die Schultern ein besticktes rotes Tuch.
    »Du hast einen geliebten Menschen verloren«, sagte ich und griff nach der linken Hand des Wirts.
    Die Brüste milchschwer und der Bauch so dick, als würde er gleich platzen. Sie ist in einer brennenden Hütte gefangen, die von Kriegern auf Pferden mit silbervergoldeten Sätteln umstellt wird. Der durchdringende Gestank von verbranntem Heu und verkohltem menschlichem Fleisch. Mongolische Reiter mit flachen, breiten Nasen, dicken, kurzen Hälsen und Herzen hart wie Stein. Die mächtige Armee des Dschingis Khan.
    Ich verbesserte mich. »Zwei geliebte Menschen hast du verloren. Deine Frau war mit eurem ersten Kind schwanger.«
    Mit zusammengezogenen Brauen und aufeinandergepressten Lippen starrte er auf seine Lederstiefel hinunter, und sein Gesicht verzog sich vor lauter Falten zu einer Landkarte, die kein Mensch mehr entziffern konnte. Plötzlich sah er viel älter aus, als er war.
    »Ich weiß, es ist kein Trost für dich, aber ich möchte dir etwas mitteilen«, sagte ich. »Sie starb nicht durch das Feuer und auch nicht durch den Rauch, sondern durch ein Brett, das von der Decke auf ihren Kopf fiel. Sie war sofort tot, ganz ohne Schmerzen. Du hast immer geglaubt, sie hätte furchtbar gelitten, aber in Wahrheit litt sie überhaupt nicht.«
    Der Wirt runzelte die Stirn und neigte sich unter einer Last, die nur er kannte. Mit heiserer Stimme fragte er: »Woher weißt du das alles?«
    Ich ging über die Frage hinweg. »Du machst dir den Vorwurf, nicht für ein ordentliches Begräbnis gesorgt zu haben. Noch heute siehst du im Traum, wie sie aus der Grube kriecht, in der sie verscharrt wurde. Aber deine Fantasie narrt dich. In Wahrheit geht es deiner Frau und deinem Sohn gut. Frei wie ein Funke Licht reisen sie durch die Unendlichkeit.«
    Und dann fügte ich, jedes Wort wägend, hinzu: »Du kannst wieder zum Lamm werden, du hast es immer noch in dir.«
    Als er das hörte, zog der Wirt seine Hand zurück, als hätte er eine glühend heiße Pfanne berührt. »Ich mag dich nicht, Derwisch«, sagte er. »Aber du kannst heute Nacht hierbleiben. Morgen in aller Früh musst du allerdings weg sein. Und dann will ich dich hier nie wieder sehen.«
    So war es immer. Kaum sagte man die Wahrheit, hassten sie einen. Je mehr man von Liebe sprach, umso mehr wurde man gehasst.

ELLA
    NORTHAMPTON, 18. MAI 2008
    B ekümmert und voll innerlicher Unruhe wegen des Streits mit David und Jeannette musste Ella die Lektüre von Süße Blasphemie für eine Weile unterbrechen. Es kam ihr so vor, als hätte jemand jäh den Deckel von einem Topf mit kochendem Wasser genommen und mit dem Dampf würden alte Konflikte und neuer Unmut aufsteigen. Leider war dieser Deckel von ihr selbst und niemandem sonst gehoben worden – weil sie Scotts Nummer gewählt und ihn gebeten hatte, ihre Tochter nicht zu heiraten.
    Später in ihrem Leben sollte sie alles, was sie während des Telefongesprächs gesagt hatte, zutiefst bereuen. Aber an diesem Tag im Mai war sie so selbstgewiss und ihrer Sache so sicher, dass der Gedanke, ihre Einmischung könnte fatale Folgen haben, nicht eine Sekunde lang in ihr aufkam.
    »Hi, Scott. Hier spricht Ella, die Mutter von Jeannette«, sagte sie, um einen möglichst heiteren Ton bemüht, so als würde sie den Freund ihrer Tochter täglich anrufen. »Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«
    »Worum geht’s denn, Mrs. Rubinstein?«, fragte Scott leicht stammelnd. Er war überrascht, nichtsdestotrotz überaus höflich.
    Und in nicht weniger höflichem Ton erklärte ihm Ella, dass sie zwar nicht das Geringste gegen ihn persönlich habe, dass er aber zu jung und zu unerfahren sei, um ihre Tochter zu heiraten. Bestimmt sei er jetzt sehr empört über ihren Anruf, fügte sie hinzu, aber schon bald werde er sie verstehen und ihr sogar dankbar dafür sein, ihn rechtzeitig gewarnt zu haben. Bis dahin bitte sie ihn, das Thema Heirat netterweise fallen zu lassen und das Gespräch strikt vertraulich zu behandeln.
    Sie erntete ein beklemmendes, fast greifbares Schweigen.
    »Ich glaube, Ihnen ist da etwas nicht recht klar, Mrs. Rubinstein«, sagte Scott, als er die Sprache

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