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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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aufbringen.
    Aber zu meiner Überraschung waren die beiden nach kurzem Zögern einverstanden. Ganz zittrig nahm ich wieder Platz. Mit so viel Geld würde ich endlich einen Brautpreis bezahlen und heiraten können und mir keine Sorgen mehr machen müssen, wie ich über die Runden käme. Derwisch oder nicht – diese Summe rechtfertigte den Mord an jedem Menschen.
    Wie hätte ich in diesem Augenblick wissen sollen, dass ich den größten Fehler meines Lebens beging und ihn den Rest meiner Tage auf Erden bereuen würde? Wie hätte ich ahnen können, dass die Ermordung des Derwischs so mühevoll werden und sein messergleicher Blick mich noch lange nach seinem Tod verfolgen würde, wohin ich auch ging?
    Vier Jahre ist es her, dass ich ihn in jenem Hof erstach, seine Leiche in einen Brunnen warf und darauf wartete, dass er aufschlug – doch vergebens. Kein Laut. Als wäre er nicht ins Wasser hinunter, sondern in den Himmel hinaufgefallen. Noch immer habe ich jede Nacht Alpträume, und wenn ich länger als ein paar Wimpernschläge auf Wasser schaue, welche Art von Wasser auch immer, erfasst mich von Kopf bis Fuß ein kaltes Grausen, und dann muss ich mich übergeben.

ERSTER TEIL
    Erde
    ALLES FESTE, TROCKENE, REGUNGSLOSE

SCHAMS
    EIN GASTHOF AM STADTRAND VON SAMARKAND, MÄRZ 1242
    B ienenwachskerzen flackerten vor meinen Augen über dem rissigen Holz des Tisches. Die Vision, die mich an diesem Abend überkam, war von ungewöhnlicher Klarheit.
    Ich sah ein großes Haus mit einem Hof, überall blühten gelbe Rosen. In der Mitte befand sich ein Brunnen mit dem kühlsten Wasser der Welt. Es war eine ruhige Vorfrühlingsnacht, am Himmel stand der Vollmond. Im Hintergrund jaulten und heulten die Geschöpfe der Nacht. Nach einem Weilchen trat ein Mann mittleren Alters aus dem Haus und suchte nach mir. Er hatte ein freundliches Gesicht, breite Schultern und tiefliegende haselnussbraune Augen. Er wirkte bekümmert, und sein Blick war zu Tode betrübt.
    »Schams! Schams, wo bist du?«, rief er nach allen Seiten.
    Ein starker Wind kam auf, und der Mond verbarg sich hinter einer Wolke, als wollte er nicht mitansehen, was gleich geschehen würde. Die Eulenschreie verstummten, das Flattern der Fledermausflügel verklang, und selbst das Herdfeuer im Haus hörte auf zu knistern. Tiefe Stille senkte sich über die Welt.
    Langsam ging der Mann auf den Brunnen zu, beugte sich darüber und blickte hinunter. »Schams, Liebster«, flüsterte er. »Bist du dort unten?«
    Ich öffnete den Mund, doch meiner Kehle entrang sich kein Laut.
    Der Mann beugte sich tiefer und blickte noch einmal in den Brunnen hinunter. Zuerst sah er nur die Schwärze des Wassers. Aber dann erblickte er ganz unten meine Hand, die ziellos auf dem gekräuselten Wasser trieb wie ein wackeliges Floß nach einem schweren Sturm. Und als Nächstes die Augen – zwei schwarz glänzende Steine, still auf den vollen Mond gerichtet, der sich jetzt hinter den dichten, dunklen Wolken hervorschob. Meine Augen starrten den Mond an, als warteten sie darauf, dass die Himmel meine Ermordung erklärten.
    Weinend fiel der Mann auf die Knie und schlug sich an die Brust. »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben meinen Schams getötet!«, schrie er.
    In diesem Moment huschte hinter einem Strauch ein Schatten hervor und sprang hastig und verstohlen wie eine Wildkatze über die Gartenmauer. Doch der Mann bemerkte den Mörder nicht. Von quälendem Schmerz ergriffen schrie und schrie er, bis seine Stimme brach wie Glas und in winzigen Splittern in die Nacht hinaus flog.
    »He, du – hör auf zu schreien wie ein Irrer!«
    »…«
    »Hör auf mit dem Lärm, oder ich schmeiß dich raus!«
    »…«
    »Ruhe, habe ich gesagt! Hörst du mich? Sei still!«
    Es war eine Männerstimme, und sie rief diese Worte bedrohlich nahe. Ich tat, als hörte ich ihn nicht; ich wollte noch ein wenig länger in meiner Vision bleiben. Ich wollte mehr über meinen Tod erfahren. Und ich wollte den Mann mit den todtraurigen Augen sehen. Wer war er? In welcher Beziehung stand er zu mir, und warum suchte er mich so verzweifelt in dieser Nacht im Frühling?
    Doch ehe ich noch einen weiteren Blick auf meine Vision erhaschen konnte, packte mich jemand aus der anderen Dimension am Arm, schüttelte mich so heftig, dass meine Zähne klapperten, und riss mich mit einem Ruck zurück in diese Welt.
    Langsam und widerwillig öffnete ich die Augen und sah, wer neben mir stand. Es war ein großer, beleibter Mann mit ergrautem Bart und einem

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