Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
wir Gott als liebevoll und mitfühlend betrachten, sind auch wir selbst so.«
Der Wirt erhob zwar sofort Einwände, doch meine Worte hatten ihn sichtlich erstaunt. »Das heißt doch aber nichts anderes, als dass Gott von unserer Vorstellung gemacht wird. Das verstehe ich nicht.«
Meine Erwiderung wurde durch einen Krawall unterbrochen, der im hinteren Teil des Schankraums ausgebrochen war. Als wir uns umwandten, sahen wir zwei derbe Gesellen, die betrunken vor sich hin grölten. Schamlos und dreist pöbelten sie andere Gäste an, schnappten sich deren Essen aus den Schüsseln und tranken aus ihren Tassen, und wer dagegen aufbegehrte, den verhöhnten sie wie zwei vorlaute Maktab-Schüler.
»Pass auf – die beiden Störenfriede knöpfe ich mir vor«, zischte der Wirt.
Blitzschnell war er bei den zwei Männern, packte einen der Betrunkenen und verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht. Damit hatte der Mann offenbar überhaupt nicht gerechnet, denn er brach zusammen und ging gleich zu Boden wie ein nasser Sack. Seinem Mund entfuhr ein kaum hörbarer Seufzer, doch davon abgesehen gab er keinen Laut mehr von sich.
Der andere erwies sich als stärker und leistete heftigen Widerstand, doch schon nach kurzer Zeit hatte der Wirt auch ihn niedergeschlagen. Er trat dem einen Krawallmacher mehrmals in die Rippen, stampfte schließlich auf dessen Hand herum und zerquetschte sie unter seinen schweren Stiefeln. Man hörte, wie knackend ein Finger brach – vielleicht waren es sogar mehrere.
»Aufhören!«, rief ich. »Du bringst ihn ja um! Willst du das?«
Als Sufi hatte ich geschworen, alles Leben zu schützen und niemandem ein Leid zu tun. In dieser Welt der Trugbilder waren viele Menschen bereit, ohne jeden Grund zu kämpfen, und viele kämpften, weil sie einen Grund dazu sahen. Ein Sufi jedoch kämpft nie, nicht einmal wenn er Grund dazu hat. Unter keinen Umständen durfte ich jemals zur Gewalt greifen. Aber ich konnte mich wie eine weiche Decke zwischen den Wirt und die beiden Männer werfen, um sie voneinander zu trennen.
»Du hältst dich da raus, Derwisch, oder es setzt auch für dich Prügel!«, rief der Wirt, aber wir wussten beide, dass das eine leere Drohung war.
Als die Schankburschen den beiden Männern aufhalfen, zeigte sich, dass der Wirt dem einen einen Finger und dem anderen die Nase gebrochen hatte. Überall war Blut. Ängstliches Schweigen erfüllte den Raum. Ehrfurchtsvolle Gesichter richteten sich auf den Wirt, und stolz warf er mir einen Seitenblick zu. Als er aufs Neue das Wort ergriff, war es, als würde er alle um ihn herum ansprechen, denn seine Stimme schoss so ungestüm in die Höhe wie ein Raubvogel, der sich selbstgewiss in den freien Himmel erhebt.
»Siehst du, Derwisch, so war es nicht immer. Mit Gewalt hatte ich nie etwas zu tun, aber in diesen Zeiten schon. Wenn Gott uns hier unten vergisst, müssen wir kleinen Leute zupacken und für Gerechtigkeit sorgen. Sag Ihm das, wenn du das nächste Mal mit Ihm redest. Sag Ihm, dass Seine Lämmer sich nicht widerstandslos zur Schlachtbank führen lassen, wenn Er sie im Stich lässt, sondern zu Wölfen werden.«
Achselzuckend wandte ich mich zum Gehen. »Du irrst dich.«
»Habe ich denn unrecht, wenn ich sage, dass ich früher ein Lamm war und zum Wolf geworden bin?«
»Nein, da hast du recht. Ich sehe wohl, dass du zum Wolf geworden bist. Aber mit der Behauptung, du würdest für ›Gerechtigkeit‹ sorgen, liegst du falsch.«
»Warte, ich bin noch nicht fertig mit dir!«, rief mir der Wirt hinterher. »Du schuldest mir noch etwas. Du wolltest meine Träume deuten, um Essen und Unterkunft zu bezahlen.«
»Ich schlage dir etwas Besseres vor: Ich werde dir aus der Hand lesen.«
Ich machte kehrt und ging, den Blick unverwandt auf seine funkelnden Augen gerichtet, zurück. In seiner Miene lag Argwohn, unwillkürlich zuckte er zusammen. Doch als ich seine rechte Hand ergriff und die Innenseite nach oben drehte, stieß er mich nicht weg. Ich erkundete die Linien; sie waren tief und rissig und verliefen ungleichmäßig. Nach und nach erschienen mir die Farben seiner Aura: ein rostiges Braun und ein Blau von solcher Fahlheit, dass es fast grau wirkte. Seine spirituelle Energie war ausgehöhlt und an den Rändern dünn geworden, als besäße sie nicht mehr die Kraft, sich gegen die Außenwelt zu verteidigen. Dieser Mann hatte in seinem tiefsten Inneren so wenig Leben wie eine welkende Pflanze. Um den Verlust seiner spirituellen Energie auszugleichen,
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