Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Er war ihretwegen den ganzen weiten Weg von Amsterdam hierhergekommen, da konnte sie wohl einmal zwei Stunden hinter dem Steuer sitzen.
»Ich wäre noch vor zehn Uhr in Boston und könnte morgen früh genug in die Agentur gehen, um noch vor der Besprechung mit Michelle zu reden.«
Ein leidvoller Schatten huschte über Davids Gesicht. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis er seine Sprache wiederfand. In diesem langen Moment hatte er den Blick eines Mannes, dem weder die Kraft noch die Leidenschaft geblieben war, um seine Frau davon abzuhalten, zu einem anderen zu gehen.
»Ich kann noch heute Abend nach Boston fahren und in unserem Apartment übernachten«, sagte Ella, scheinbar an ihre Kinder, in Wahrheit aber nur an David gewandt. Damit versuchte sie ihrem Mann zu versichern, dass es zwischen ihr und demjenigen, mit dem sie sich seiner Mutmaßung nach treffen wollte, keine Bettgeschichte geben würde.
David erhob sich mit einem Glas Wein in der Hand von seinem Stuhl, machte eine schwungvolle Geste Richtung Tür und sagte ein wenig zu bereitwillig: »Gut, Liebling, wenn du unbedingst willst, dann fahr gleich.«
»Aber du wolltest doch heute noch Mathe mit mir lernen, Mom!«, wandte Avi ein.
Ella lief knallrot an. »Ja, ich weiß. Aber das können wir auch morgen machen.«
»Jetzt lass sie in Ruhe! Du brauchst doch nicht ständig deine Mama um dich rum«, stichelte Orly. »Wann wirst du eigentlich mal erwachsen?«
Avi runzelte die Stirn, ohne jedoch etwas zu erwidern. Orly hielt zu ihr, Jeannette war es ohnehin egal, und so nahm Ella umstandslos ihr Handy und lief nach oben. Sie schloss die Schlafzimmertür hinter sich, warf sich aufs Bett und schrieb Aziz eine SMS.
Ich fasse es nicht, dass du da bist. Bin in zwei Stunden im Onyx.
Sie starrte auf das Handy und geriet fast in Panik, als sie sah, dass die Nachricht gesendet wurde. Was tat sie da eigentlich? Aber zum Nachdenken blieb jetzt keine Zeit. Wenn sie diesen Abend jemals bereuen würde – wovon sie ausging –, dann konnte sie das auch später noch tun. Jetzt musste es schnell gehen. Zwanzig Minuten später hatte sie geduscht, ihre Haare gefönt, sich die Zähne geputzt, ein Kleid herausgesucht, es wieder ausgezogen, ein anderes anprobiert, dann noch eines, sich gekämmt, geschminkt, die kleinen Ohrringe gesucht, die ihre Oma Ruth ihr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, und sich noch einmal umgezogen.
Sie atmete tief durch und trug ein bisschen Parfüm auf. Eternity von Calvin Klein. Der Flakon stand schon seit Jahren im Spiegelschrank. David mochte Parfüm nicht besonders. Wenn es nach ihm ging, sollten Frauen nach Frau riechen und nicht nach Vanilleschoten oder Zimststangen. Aber vielleicht dachten europäische Männer anders darüber. In Europa war Parfüm doch immer unglaublich wichtig.
Als sie fertig war, betrachtete sie die Frau im Spiegel. Warum hatte er sein Kommen nicht angekündigt? Dann wäre sie zum Friseur und zur Maniküre und zur Kosmetikerin gegangen und hätte vielleicht sogar eine neue Frisur ausprobiert. Was, wenn sie ihm nicht gefiel? Was, wenn die Chemie zwischen ihnen nicht stimmte und er es bereute, die weite Reise nach Boston gemacht zu haben?
Schlagartig kam sie wieder zur Vernunft. Warum hätte sie ihr Äußeres verändern sollen? Was machte es schon aus, ob die Chemie zwischen ihnen stimmte oder nicht? Alles, was sie mit diesem Mann haben könnte, wäre ein flüchtiges Abenteuer. Sie hatte eine Familie. Sie hatte ein Leben. Ihre Vergangenheit gehörte ebenso hierher wie ihre Zukunft. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie sich zu dermaßen weltfremden Träumereien verstiegen hatte, und beschloss, es einfach auszublenden. Das fiel ihr, wie sie wusste, immer am leichtesten.
Um Viertel vor acht gab Ella ihren Kindern einen Gutenachtkuss und verließ das Haus. David war nirgends zu sehen.
Auf dem Weg zu ihrem Auto klimperten die Schlüssel für das Bostoner Apartment in ihrer Hand. Ihr Kopf fühlte sich leer an, aber ihr Herz raste.
FÜNFTER TEIL
Die Leere
ALLES, WAS DURCH SEIN FORTSEIN DA IST
SULTAN WALAD
KONYA, JULI 1246
B itter war es, meinen Vater so zu sehen. Er atmete schwer und konnte sich kaum aufrecht halten, als er in mein Zimmer kam, ein Schatten seiner selbst. Dunkel und unheilverheißend lagen seine Augen in den Höhlen, als wäre er die ganze Nacht hindurch wach gewesen. Am erschreckendsten aber fand ich, dass sein Bart völlig weiß geworden war.
»Hilf mir, mein Sohn«, sagte er mit
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