Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
und Logik, doch er verbarg sein Wissen vor den Augen der Unverständigen. Er war ein Faqih, aber er handelte wie ein Faqir.
Er öffnete einer Hure unsere Tür und brachte uns dazu, das Mahl mit ihr zu teilen. Er schickte mich in die Schenke und hieß mich, mit den Trinkern zu reden. Einmal zwang er mich, gegenüber der Moschee, in der ich immer predigte, zu betteln, damit ich lernte, mich wie ein aussätziger Bettler zu fühlen. Er sonderte mich von meinen Bewunderern und schließlich auch von dem Kreis der Mächtigen ab und brachte mich mit den einfachen Leuten zusammen. Ihm verdanke ich die Bekanntschaft mit Menschen, die ich ohne ihn niemals kennengelernt hätte. In seiner Überzeugung, alle zwischen dem Einzelnen und Gott stehenden Götzen seien zu zerstören – und dazu zählte er auch Ruhm, Reichtum, Ansehen und selbst die Religion –, durchschlug er sämtliche Bande, die mich an mein früheres Leben ketteten. Auf jede geistige Beschränkung, die er entdeckte, auf jedes Vorurteil, jedes Tabu ging er ohne Rücksicht los.
Für ihn durchlief ich Proben und Prüfungen, machte Zeiten und Zustände durch, die mich in den Augen selbst meiner treuesten Anhänger zunehmend geistig verwirrt erscheinen ließen. Vor Schams hatte ich zahlreiche Bewunderer; nun ist mein Bedürfnis nach Zuhörern verschwunden. Schams gelang es, meinen Ruf Schlag um Schlag zu zertrümmern. Er lehrte mich den Wert des Wahnsinns, das Gefühl der Einsamkeit, der Ohnmacht, der Verleumdung, des Ausgestoßenseins und des tiefsten Kummers.
Flieh, was Gewinn bringt und Nutzen!
Trink Gift und verschütte das Wasser des Lebens!
Gib die Sicherheit auf, bleib an Orten des Grauens!
Wirf dein Ansehen weg, sei schändlich und schamlos!
Werden wir nicht alle letztlich vor Gericht gestellt? Jeden Tag, jede Minute fragt uns Gott: Entsinnst du dich des Vertrags, den wir schlossen, ehe du auf diese Welt gesandt wurdest? Weißt du, welches dein Anteil daran ist, Meinen Schatz zu offenbaren?
Zumeist wollen wir diese Fragen nicht beantworten. Sie ängstigen uns zu sehr. Aber Gott ist geduldig. Er stellt sie uns immer wieder.
Und wenn auch dieser tiefe Kummer eine Prüfung ist, so habe ich nur den einen Wunsch: Schams zu finden, wenn sie beendet ist. Meine Bücher, meine Predigten, meine Familie, meinen Reichtum und meinen Namen – alles, alles gebe ich gern preis, wenn ich dafür nur noch einmal sein Gesicht sehen darf.
Vor Kurzem sagte Kira, ich würde – fast wider Willen – zum Dichter. Obwohl ich nie viel von den Dichtern hielt, erstaunten mich ihre Worte nicht. Zu jeder anderen Zeit hätte ich wohl widersprochen, nun tat ich es nicht.
Ohne Unterlass und wie von selbst strömen die Gedichte aus meinem Mund, und wer sie hört, könnte meinen, ich würde tatsächlich zum Dichter. Der Sultan der Sprache! Doch in Wahrheit, glaube ich, gehören diese Gedichte nicht mir. Ich bin nur der Mittler für die Buchstaben, die mir in den Mund gelegt werden. Wie eine Feder, die die vorgegebenen Worte schreibt, oder die Flöte, die die Töne spielt, die man in sie hineinbläst, erfülle auch ich nur meine Aufgabe.
Herrliche Sonne von Täbris, wo bist du?
SCHAMS
DAMASKUS, APRIL 1247
B lühender Frühling herrschte in Damaskus, und seit meinem Fortgang aus Konya waren zehn Monate vergangen, als Sultan Walad mich fand. Der Himmel über uns war blau und klar, und ich spielte Schach mit einem christlichen Eremiten namens Franziskus, einem Mann, der sein inneres Gleichgewicht nicht leicht verlor und der wusste, was Unterwerfung bedeutet. Und da Islam der innere Friede ist, der von der Unterwerfung herrührt, war Franziskus für mich ein besserer Moslem als viele, die sich als einen solchen bezeichneten. Denn dies ist eine der vierzig Regeln: Unterwerfung bedeutet nicht, schwach oder duldsam zu sein. Sie führt weder zur Ergebenheit in die Macht des Schicksals noch zur Aufgabe des Selbst. Ganz im Gegenteil. Wahre Kraft wurzelt in der Unterwerfung – eine Kraft, die von innen kommt. Wer sich dem göttlichen Kern des Lebens unterwirft, der lebt auch dann ruhig und gelassen, wenn die ganze große Welt in Aufruhr ist.
Ich zog meinen Wesir, um Franziskus’ König zu einem Stellungswechsel zu zwingen, doch er bewegte in einer mutigen Entscheidung sofort seinen Turm. Ich begann bereits zu ahnen, dass ich die Partie verlieren würde, hob den Kopf und sah mich Auge in Auge Sultan Walad gegenüber.
»Wie schön, dir zu begegnen«, sagte ich. »Du hast also doch
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