Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Vogelschwinge, der Wind in der Sturmnacht, der Hammer des Schmieds auf dem Eisen, die Töne, die das Kind im Mutterleib hört … Alles hat leidenschaftlich und von sich selbst aus Teil an einer einzigen großen Melodie. Der Tanz der kreisenden Derwische ist ein Glied in dieser ewigen Kette. So wie der einzelne Tropfen Meerwasser den ganzen Ozean in sich birgt, so spiegelt und verhüllt unser Tanz gleichermaßen die Geheimnisse des Kosmos.
Einige Stunden vor unserer Aufführung zog ich mich mit Rumi in einen stillen Raum zurück, um zu meditieren. Die sechs Derwische, die am Abend tanzen sollten, stießen zu uns. Wir nahmen die rituellen Waschungen vor und beteten. Dann legten wir unsere Kostüme an. Wir hatten bereits ausführlich darüber gesprochen, welche Kleidung angemessen sei, und uns für einen einfachen Stoff und erdige Farbtöne entschieden. Honiggelb sollte der Hut sein, der den Grabstein verkörpert, weiß der lange Rock, der für das Leichentuch steht, und schwarz der Umhang, der das Grab darstellen soll. Unser Tanz führte vor, wie die Sufis ihr ganzes Ich abwerfen, als entledigten sie sich einer alten Haut.
Kurz bevor wir auf die Bühne traten, trug Rumi ein Gedicht vor:
»Der Gnostiker ist den fünf Sinnen
Und den sechs Richtungen entkommen und macht dir bewusst,
Was dahinter liegt.«
Dann waren wir bereit. Der Klang der Ney ertönte, und Rumi betrat die Bühne in seiner Eigenschaft als Semazenbaschi. Ihm folgten, mit bescheiden gesenkten Köpfen, nacheinander die Derwische. Als Letzter kam immer der Scheich. Es hatte mir sehr widerstrebt, an diesem Abend diese Rolle zu übernehmen, aber Rumi hatte darauf bestanden.
Der Hafiz trug einen Koranvers vor: Gewiss gibt es auf Erden Zeichen für die Menschen voller Gewissheit und ebenso in euch selbst. Seht ihr es nicht?
Dann setzte die Kudüm ein und begleitete den durchdringenden Klang der Ney und des Rebab.
Hör auf der Flöte Rohr, was es verkündet,
Hör, wie es klagt, von Sehnsuchtsschmerz entzündet:
Als man mich abschnitt am beschilften See,
Da weinte alle Welt bei meinem Weh …
Der erste Derwisch ließ sich in die Hände Gottes fallen und begann zu kreisen, und der Saum seines Rocks raschelte leise, als hätte er ein ganz eigenes Leben. Wir schlossen uns an und drehten uns, bis um uns herum nur mehr Einssein war. Alles, was wir vom Himmel erhielten, gaben wir weiter an die Erde, von Gott zu den Menschen. Jeder von uns wurde zu einer Verbindung zwischen dem Liebenden und dem Geliebten. Als die Musik erstarb, verneigten wir uns gemeinsam vor den ursprünglichen Kräften des Universums: dem Feuer, dem Wind, der Erde, dem Wasser und dem fünften Element, der Leere.
Was sich nach dem Ende der Darbietung zwischen Kai Chosrau und mir zutrug, bedauere ich nicht. Aber es tut mir leid, dass ich Rumi in eine so schwierige Lage gebracht habe. Er ist ein Mann, der stets Vorrechte und Schutz genoss und nie zuvor mit einem Herrscher im Streit lag. Jetzt hat er wenigstens einen winzigen Einblick in das gewonnen, was gewöhnliche Menschen ständig erleben – die unermesslich tiefe Kluft zwischen der herrschenden Elite und der breiten Masse des Volks.
Und damit nähert sich wohl auch das Ende meiner Zeit in Konya.
Jede wahre Liebe und Freundschaft ist die Geschichte einer unerwarteten Veränderung. Wenn wir, nachdem wir geliebt haben, derselbe sind wie zuvor, dann haben wir nicht genug geliebt.
Dichtung, Musik und Tanz sind in Rumis Leben getreten, und damit ist ein großer Teil seiner Veränderung abgeschlossen. War er früher ein strenger Gelehrter, dem die Dichtung missfiel, und ein Prediger, der den Klang der eigenen Stimme genoss, während er anderen Vorträge hielt, so verwandelt er sich jetzt selbst in einen Dichter und wird zur Stimme der reinen Leere, auch wenn ihm das noch nicht ganz bewusst ist. Aber auch ich habe mich verändert und verändere mich weiter. Ich wandle vom Sein zum Nichts. Von einer Jahreszeit zur nächsten, von einer Stufe zur nächsten, vom Leben zum Tod.
Unsere Freundschaft war ein Segen, ein Geschenk Gottes. Gemeinsam wuchsen wir, waren glücklich, blühten auf, sonnten uns in der Gesellschaft des anderen und genossen vollkommene Fülle und Seligkeit.
Ich denke an das zurück, was Baba Zaman mir einst sagte. Damit es Seide geben kann, muss die Raupe sterben. Als ich allein dort in der Halle saß, nachdem alle gegangen waren und der Lärm sich gelegt hatte, wusste ich plötzlich, dass meine Zeit mit Rumi an ihr Ende
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