Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
völlig fremd klingender Stimme.
Ich lief zu ihm und packte seinen Arm. »Alles, Vater – du musst es mir nur sagen.«
Er schwieg eine Weile, als drückte ihn die Last dessen, was er mir mitteilen wollte, nieder. »Schams ist nicht mehr da. Er hat mich verlassen.«
Für einen Moment war ich vollkommen verwirrt und empfand eine merkwürdige Erleichterung, doch davon sagte ich ihm nichts. Ich war traurig und entsetzt, aber mir kam auch der Gedanke, dass es womöglich zum Besten für uns alle sei. Vielleicht würde das Leben jetzt leichter und ruhiger werden. Mein Vater hatte sich in letzter Zeit viele Feinde gemacht, und das nur wegen Schams. Ich wollte, dass alles wieder so würde zuvor. Hatte Aladdin vielleicht recht? Würde es uns allen ohne Schams nicht bessergehen?
»Du darfst nie vergessen, wie viel er mir bedeutet«, sagte mein Vater, als hätte er meine Gedanken erspürt. »Er und ich, wir sind eins. Ein und derselbe Mond hat eine helle und eine dunkle Seite. Schams ist meine ungebärdige Seite.«
Ich nickte und schämte mich. Mir wurde schwer ums Herz. Mein Vater musste kein einziges Wort mehr sagen. Noch nie hatte ich so viel Leid in den Augen eines Menschen gesehen. Meine Zunge fühlte sich schwer an. Eine Zeit lang brachte ich nichts über meine Lippen.
»Ich will, dass du Schams findest – das heißt, natürlich nur, wenn er gefunden werden will. Hol ihn zurück. Sag ihm, wie weh mir ums Herz ist.« Die Stimme meines Vaters senkte sich zu einem Flüstern. »Sag ihm, es bringt mich um, dass er nicht da ist.«
Ich versprach ihm, Schams zurückzuholen. Er ergriff meine Hand und drückte sie so dankbar, dass ich den Blick abwenden musste, weil ich nicht wollte, dass er die Unentschlossenheit in meinen Augen sah.
Eine Woche lang wanderte ich durch die Straßen Konyas in der Hoffnung, eine Spur von Schams zu finden. Unterdessen hatten alle in der Stadt von seinem Verschwinden gehört und stellten die wildesten Mutmaßungen darüber an, wo er wohl sei. Ich traf einen Aussätzigen, der Schams sehr zugetan war. Er wies mir den Weg zu vielen verzweifelten und unglücklichen Menschen, denen der Wanderderwisch geholfen hatte. Ich wusste nicht, dass Schams von so vielen geliebt wurde, denn es waren allesamt Menschen, die bis dahin für mich unsichtbar waren.
Eines Abends kehrte ich müde und benommen nach Hause zurück. Kira brachte mir eine Schüssel Reisbrei, der nach Rosenessenz duftete. Sie ließ sich neben mir nieder und sah mir beim Essen zu; ihr Lächeln war nicht frei von Schmerz. Wie sehr sie im vergangenen Jahr gealtert war, war nicht zu übersehen.
»Ich habe gehört, dass du Schams zurückbringen willst. Weißt du, wohin er gegangen ist?«, fragte sie mich.
»Es gibt Gerüchte, er sei nach Damaskus gegangen. Aber andere Leute meinten, er sei nach Isfahan, Kairo oder sogar nach Täbris aufgebrochen, seine Geburtsstadt. Wir müssen überall suchen. Ich werde nach Damaskus reisen. Einige Schüler meines Vater werden sich in die anderen drei Städte begegeben.«
Kira setzte eine feierliche Miene auf, und sie murmelte, als denke sie laut: »Maulana schreibt Verse. Sie sind wunderschön. Schams’ Fortgang macht ihn zum Dichter.«
Sie senkte den Blick auf den persischen Teppich. Ihre Wangen waren feucht. Sie zog ihren runden Mund zusammen, seufzte und begann vorzutragen:
»Ich sah des Königs herrliches Antlitz,
Ihn – Auge und Sonne des Himmels.«
Auf einmal lag etwas in der Luft, was einen Wimpernschlag zuvor noch nicht da gewesen war. Ich spürte Kiras tiefe innere Zerrissenheit. Ein Blick in ihr Gesicht genügte, um zu erkennen, wie weh es ihr tat, ihren Mann leiden zu sehen. Sie hätte alles in ihrer Macht Stehende getan, damit er nur wieder lächelte. Aber zugleich war sie erleichtert, ja fast froh, Schams endlich losgeworden zu sein.
»Was, wenn ich ihn nicht finde?«, hörte ich mich fragen.
»Dann wird man nicht viel machen können. Dann werden wir unser Leben weiterleben wie zuvor«, antwortete Kira, und in ihren Augen glomm ein Fünkchen Hoffnung auf.
In diesem Moment erkannte ich mit aller Klarheit und frei von jedem Zweifel, was sie mir zu verstehen geben wollte. Ich musste Schams nicht finden. Ich musste nicht einmal nach Damaskus gehen. Ich konnte Konya am nächsten Tag verlassen, eine Weile umherstreifen, mich in einem hübschen Gasthof einquartieren und nach ein paar Wochen zurückkehren, vorgebend, ich hätte überall nach Schams gesucht. Mein Vater würde meinen Worten
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