Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
nebenbei, als spräche er mit sich selbst: »Sei gegrüßt, Aladdin, hast du mich gesucht?«
Ich erwiderte nichts. Ich wusste, dass er durch geschlossene Türen hindurchsehen konnte, und war nicht überrascht, nun festzustellen, dass er auch Augen im Hinterkopf hatte.
»Hat dir die Vorführung gestern gefallen?«, fragte er und wandte mir endlich das Gesicht zu.
»Es war widerwärtig«, platzte ich heraus. »Da gibt es etwas zu klären. Ich kann dich nicht ausstehen, ich konnte dich noch nie ausstehen. Und ich werde es nicht zulassen, dass du das Ansehen meines Vaters noch weiter zerstörst.«
Schams legte die Ney beiseite und sagte mit einem Blitzen in den Augen: »Ach, darum geht es also? Wenn Rumis Ansehen zerstört ist, blicken die Leute nicht mehr zu dir als dem Sohn eines bedeutenden Mannes auf. Macht dir das Angst?«
Entschlossen, mich nicht von ihm beeindrucken zu lassen, überhörte ich seine Sticheleien. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis ich etwas entgegnen konnte.
»Geh und lass uns in Ruhe! Alles stand zum Besten, bevor du hier aufgetaucht bist«, fuhr ich ihn an. »Mein Vater ist ein hochgeachteter Gelehrter und Familienvater. Ihr zwei habt nichts gemeinsam.«
Er reckte den Hals, runzelte nachdenklich die Stirn und holte tief Luft. Mit einem Mal wirkte er alt und verwundbar. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, ihn zu verdreschen, ihn grün und blau zu prügeln, bevor ihm jemand zu Hilfe eilen konnte. Dieser Gedanke war so grauenhaft und böse, zugleich aber so schrecklich verlockend, dass ich den Blick von ihm wenden musste.
Als ich ihn wieder anschaute, sah ich, dass Schams mich mit neugierig leuchtenden Augen musterte. Konnte er etwa meine Gedanken lesen? Plötzlich zog sich ein Kribbeln von den Händen bis zu den Füßen durch meinen Körper, ein Gefühl, als stächen mich tausend Nadeln, und meine Knie wurden weich. Das konnte nur schwarze Magie sein. Bestimmt beherrschte Schams die finstersten Arten der Hexerei.
»Du hast Angst vor mir, Aladdin«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Weißt du, an wen du mich erinnerst? An den schielenden Gehilfen.«
»Wovon redest du?«, fragte ich.
»Es ist eine Geschichte. Magst du Geschichten?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Für so etwas habe ich keine Zeit.«
Schams verzog leicht herablassend den Mund. »Ein Mensch, der keine Zeit für Geschichten hat, hat keine Zeit für Gott. Weißt du nicht, dass Gott der beste Geschichtenerzähler ist?«
Und dann erzählte er mir, ohne meine Erwiderung abzuwarten, diese Geschichte:
Es war einmal ein Handwerker, der hatte einen verbitterten Gehilfen, der obendrein schielte und alles doppelt sah. Eines Tages forderte der Handwerker ihn auf, einen Topf Honig aus der Vorratskammer zu holen. Der Gehilfe kehrte mit leeren Händen zurück. »Meister, da stehen zwei Töpfe mit Honig«, jammerte er. »Welchen soll ich denn nun bringen?« Der Handwerker, der seinen Gehilfen nur zu gut kannte, antwortete: »Zerbrich doch einfach den einen Topf und bring mir den anderen.«
Leider war der Gehilfe zu dumm, um die Weisheit hinter den Worten des Meisters zu erkennen, und tat, wie ihm geheißen war. Er zerbrach einen der beiden Töpfe und wunderte sich dann sehr, als auch der andere in Scherben ging.
»Was willst du damit sagen?«, fragte ich. Schams meine Gereiztheit offen zu zeigen war nicht klug, aber ich konnte nicht anders. »Du immer mit deinen verdammten Geschichten! Kannst du vielleicht auch mal verständlich reden?«
»Aber es ist doch ganz leicht zu verstehen, Aladdin. Ich sage dir damit, dass du genau wie der schielende Gehilfe in allem zwei Dinge siehst. Dein Vater und ich, wir sind eins. Wenn du mich zerbrichst, zerbrichst du auch ihn.«
»Du und mein Vater, ihr habt nichts gemeinsam«, wiederholte ich. »Indem ich den zweiten Topf zerschlage, befreie ich den ersten!«
Ich war so hasserfüllt und wütend, dass ich die Folgen meiner Worte überhaupt nicht bedachte. Das tat ich erst viel später.
Erst, als es zu spät war.
SCHAMS
KONYA, JUNI 1246
B eschränkte Menschen halten Tanzen für etwas Frevelhaftes. Sie glauben, Gott habe uns die Musik geschenkt – nicht nur die Musik, die wir mit unserer Stimme und den Instrumenten erzeugen, sondern auch die Musik, die allem Lebendigen zugrunde liegt –, um dann zu verbieten, dass wir sie uns anhören. Erkennen sie denn nicht, dass die ganze Natur ein einziges Singen ist? Alles im Universum unterliegt einem Rhythmus – das pochende Herz, die schlagende
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