Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Glauben schenken, und damit wäre das Ganze ein für alle Mal aus der Welt. Vielleicht wäre es das Beste, nicht nur für Kira und Aladdin, die Schams schon immer misstraut hatten, sondern auch für die Schüler und Anhänger meines Vaters und sogar für mich selbst.
»Was soll ich tun, Kira?«
Kira, die Frau, die zum Islam übergetreten war, um meinen Vater heiraten zu können, die mir und meinem Bruder eine wundervolle Mutter gewesen war und die ihren Mann so sehr liebte, dass sie die Gedichte auswendig lernte, die er für einen anderen schrieb, warf mir einen gequälten Blick zu und schwieg. Ihr fehlten mit einem Mal die Worte.
Ich musste die Antwort allein finden.
RUMI
KONYA, AUGUST 1246
B leiern schwer ist die Welt, bar der Sonne, seit Schams verschwunden ist. Die Stadt ist trist und kalt und meine Seele leer. Nachts kann ich nicht schlafen, und am Tage streife ich ziellos umher. Ich bin da und bin doch nicht da – ein Gespenst unter den Menschen. Gegen jedermann hege ich Zorn. Warum leben sie einfach so weiter, als hätte sich nichts verändert? Wie könnte das Leben noch das gleiche sein ohne Schams-e Tabrizi?
Tag für Tag sitze ich von früh bis spät allein in der Bibliothek und denke nur an Schams. Ich erinnere mich an das, was er einmal in leicht barschem Ton zu mir sagte: »Einst wirst du die Stimme der Liebe sein.«
Ich weiß nicht, was er damit meinte, aber wahr ist, dass mich die Stille quält, während Worte eine Bresche durch die Düsternis meines Herzens schlagen. Das war es wohl, was Schams von Anfang an gewollt hatte – dass ich durch ihn zum Dichter würde!
Das Leben hat Vollkommenheit zum Ziel. Jedes Geschehnis, gleich wie ungeheuerlich oder nichtig, und jedes Ungemach, das uns widerfährt, ist Teil eines göttlichen, auf dieses Ziel hin ausgerichteten Plans. Dem Menschen wohnt das Bemühen inne. Deshalb heißt es im Koran: Gewisslich weisen wir Unsere Wege denen, die sich auf Unserem Weg bemühen. Es gibt keinen Zufall in Gottes Plan. Und so war es kein Zufall, dass Schams-e Tabrizi an jenem Oktobertag vor fast zwei Jahren meinen Weg kreuzte.
»Ich bin nicht des Windes wegen zu dir gekommen«, sagte Schams damals zu mir.
Und dann erzählte er mir eine Geschichte.
Es lebte einmal ein Sufi-Meister, der so gelehrt war, dass ihm der Atem Jesu verliehen wurde. Er hatte nur einen Schüler und war sehr zufrieden mit dem, was ihm gegeben worden war. Doch sein Schüler schlug nicht nach seiner Art. Weil diesen danach verlangte, dass die Kräfte seines Meisters von allen bewundert würden, bedrängte er ihn unablässig, weitere Anhänger um sich zu scharen.
Am Ende stimmte der Meister zu. »Nun gut«, sagte er, »wenn es dich glücklich macht, tue ich, was du sagst.«
An diesem Tag gingen sie zum Markt in der Stadt. An einem der Stände wurden Süßigkeiten in Form kleiner Vögel verkauft. Sobald der Meister sie anhauchte, wurden sie lebendig und flogen mit dem Wind davon. Sprachlos und voller Bewunderung umringten die Leute den Meister. Von diesem Tag an sangen alle Menschen in der Stadt sein Lob. Schon bald hatte er so viele Anhänger und Bewunderer, dass sein alter Schüler ihn nicht mehr oft zu Gesicht bekam.
»Ich hatte unrecht, Meister«, jammerte er verzweifelt. »Früher war es viel besser. Unternimm etwas! Sag allen, sie sollen gehen!«
»Gut. Wenn es dich glücklich macht, werde ich sie verscheuchen.«
Am nächsten Tag ließ der Meister während seiner Predigt einen Wind streichen. Seine Anhänger waren entsetzt. Einer nach dem anderen wandte sich ab und verließ ihn. Nur sein alter Schüler blieb.
»Warum bist du nicht mit den anderen gegangen?«, fragte ihn der Meister.
Da antwortete der Schüler: »Ich bin nicht des ersten Windes wegen zu dir gekommen, und ich verlasse dich nicht wegen des zweiten.«
Alles, was Schams tat, tat er zu meiner Vervollkommnung. Und eben das haben die Menschen in Konya nie verstanden. Schams schürte die Flammen der Gerüchteküche mit voller Absicht, traf empfindliche Nerven und sprach Dinge aus, die für gewöhnliche Ohren nach Gotteslästerung klangen, er erschreckte und reizte selbst die Menschen, die ihn liebten. Er warf meine Bücher ins Wasser und zwang mich, alles, was ich wusste, zu verlernen. Allen war bekannt, dass er den Scheichs und Gelehrten kritisch gegenüberstand, aber nur die wenigsten hatten Kunde davon, wie gut er den Tafsir beherrschte. Schams besaß umfassende Kenntnisse in Alchemie, Astrologie, Theologie, Philosophie
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