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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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Religionen sind wie Flüsse: Alle strömen in dasselbe Meer. Maria steht für Mitleid, Barmherzigkeit, Zuneigung und bedingungslose Liebe. Sie ist ein Mensch und eine allumfangende Wesenheit zugleich. Du darfst sie auch als Moslemin weiterhin lieben und sogar deiner Tochter den Namen Maria geben.«
    »Ich habe keine Tochter«, sagte ich.
    »Du wirst eine bekommen.«
    »Das glaubst du?«
    »Ich weiß es.«
    Große Aufregung überkam mich, als ich das hörte, aber sie wich sehr schnell einem anderen Gefühl – dem der Verbundenheit. In diesem von uns beiden als heiter empfundenen Moment der Einmütigkeit betrachteten wir gemeinsam die Jungfrau Maria. Ich fühlte Zuneigung für Schams, und zum ersten Mal, seit er in unser Haus gekommen war, erkannte ich, was Rumi in ihm sah: einen Menschen mit einem großen Herzen.
    Trotzdem glaubte ich nicht, dass er Kimya ein guter Mann sein würde.

ELLA
    BOSTON, 29. JUNI 2008
    B enommen vor Nervosität betrat Ella das Hotel. Sie war so angespannt, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Im Foyer stand eine Gruppe japanischer Touristen, alle bestimmt über siebzig und mit der gleichen Frisur. Ella durchquerte den Eingangsbereich, den Blick auf die Wandgemälde gerichtet, um den Menschen ringsum nicht in die Augen schauen zu müssen. Aber gleich darauf siegte ihre Neugier über ihre Schüchternheit, denn als sie zum Sitzbereich hinüberschaute, sah sie ihn. Er beobachtete sie.
    Er trug ein khakifarbenes Button-down-Hemd und eine dunkle Cordhose, und der Zweitagebart stand ihm ausnehmend gut. Sein lockiges kastanienbraunes Haar fiel ihm in die grünen Augen, was ihm etwas Selbstbewusstes und zugleich Schelmisches verlieh. Weil er so dünn und drahtig, so leicht und geschmeidig war, erweckte er einen völlig anderen Eindruck als David mit seinen teuren, maßgeschneiderten Anzügen. Er sprach mit schottischem Akzent, was sie hinreißend fand, hatte ein charmantes Lächeln und schien ehrlich erfreut, sie zu sehen. Und Ella fragte sich unwillkürlich, was denn so schlimm daran wäre, eine Tasse Kaffee mit ihm zu trinken.
    Hinterher wusste sie nicht mehr, wie aus einer Tasse Kaffee mehrere Tassen geworden und wie es dazu gekommen war, dass das Gespräch einen mehr und mehr vertrauten Ton annahm und er irgendwann ihre Fingerspitzen küsste – sie wusste es genauso wenig, wie sie erklären konnte, weshalb sie ihn nicht daran hinderte. Nach einiger Zeit war nichts mehr wichtig, solange er nur weitersprach und sie den Blick auf dem Grübchen an seinem Mundwinkel ruhen lassen und sich fragen konnte, wie es wohl wäre, ihn an dieser Stelle zu küssen. Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht, und sie war in einem Hotel mit einem Mann, den sie außer durch ein paar E-Mails und Telefongespräche und den von ihm verfassten Roman nicht kannte.
    »Du bist also wegen des Smithsonian-Magazins hier?«, fragte sie.
    »Ehrlich gesagt bin deinetwegen hier«, erwiderte Aziz. »Nachdem ich deinen Brief gelesen hatte, wollte ich kommen und dich treffen.«
    Noch gab es Ausfahrten an dieser Schnellstraße. Bis zu einem bestimmten Punkt bestand die Möglichkeit, so zu tun, als wäre alles rein freundschaftlich gewesen – die E-Mails, die Telefongespräche, sogar die Blicke. Ein bisschen viel Flirt und neckisches Gerede vielleicht, aber bestimmt nicht mehr. Sie hätte die Grenze ziehen können. Allerdings nur, bis er sie fragte: »Sollen wir in mein Zimmer gehen, Ella?«
    Wenn das Ganze ein Spiel war, das sie miteinander spielten, dann war dies der Augenblick, in dem es ernst wurde. Durch seine Frage war alles viel zu wirklich geworden, so als hätte er eine Hülle entfernt und nun läge die Wahrheit, die nackte Wahrheit, die immer schon da gewesen war, offen vor ihren Augen. Obwohl Ella ein blubberndes Unbehagen im Bauch spürte, das sie als Angst interpretierte, gab sie Aziz keinen Korb. Bis zu diesem Tag hatte sie nie eine derart spontane Entscheidung getroffen, aber zugleich war ihr, als wäre diese Entscheidung bereits für sie getroffen worden und sie bräuchte nichts zu tun, außer ja zu sagen.
    Zimmer 608 war in angenehmen Schwarz-, Rot-, Grau- und Beigetönen eingerichtet; es war warm und geräumig. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie zum letzten Mal in einem Hotel gewesen war, und entsann sich einer lang zurückliegenden Reise nach Montreal mit David und den Kindern. Seither hatten sie jeden Urlaub in ihrem Haus in Rhode Island verbracht, sodass es für sie keinen Anlass mehr gegeben hatte, sich

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