Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
»Was würden die Leute sagen, wenn du jetzt aus dem Zimmer gehst? Sie wüssten dann, dass diese Ehe nicht vollzogen wurde, und dächten, es liege an mir.«
»Wie meinst du das?«, sagte ich halb zu mir selbst, denn ich wusste, worauf sie anspielte.
Sie wandte den Blick ab und murmelte etwas Unverständliches. Dann sagte sie leise: »Sie würden denken, dass ich keine Jungfrau mehr bin. Dann müsste ich in Schande leben.«
Mein Blut geriet in Wallung vor Zorn darüber, dass die Gesellschaft dem Einzelnen solch lächerliche Regeln auferlegte. Die Vorschriften hatten weniger mit der von Gott geschaffenen Harmonie zu tun als mit der Ordnung, die die Menschen aufrechterhalten wollten.
»Das ist Unsinn. Die Leute sollen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern«, wandte ich ein. Aber ich wusste, dass Kimya recht hatte.
Mit einer raschen Bewegung ergriff ich das Messer neben dem Granatapfel. In Kimyas Gesicht leuchtete erst Angst auf, um nach und nach einem Ausdruck des Verstehens zu weichen. Ohne Zaudern schnitt ich mir in die Innenfläche meiner linken Hand. Das Blut tröpfelte auf unser Laken und hinterließ dunkelrote Flecken.
»Gib ihnen dieses Laken. Das wird ihnen das Maul stopfen und die Reinheit deines Namens erhalten, so wie es sein soll.«
»Bitte warte! Geh nicht weg!«, flehte Kimya. Sie erhob sich, und weil sie nicht wusste, was sie tun sollte, sagte sie noch einmal: »Ich bin jetzt deine Frau.«
Da wurde mir schlagartig klar, dass es ein großer Fehler gewesen war, sie zu heiraten. Mit schmerzendem Kopf verließ ich das Zimmer und ging in die Nacht hinaus. Ein Mann wie ich sollte nie heiraten. Ich war nicht gemacht für die Erfüllung der ehelichen Pflichten, das sah ich jetzt deutlich. Traurig stimmte mich nur der Preis dieser Erkenntnis.
Ich verspürte den Drang, alles zu verlassen – nicht nur dieses Haus, diesen Bund, diese Stadt, sondern auch den Leib, der mir geschenkt worden war. Doch die Vorstellung, am Morgen Rumi zu sehen, hielt mich an Ort und Stelle. Ich war außerstande, mich abermals von ihm abzuwenden.
Ich saß in der Falle.
ALADDIN
KONYA, MAI 1247
B etrauern, zutiefst betrauern würde ich diese Entscheidung, das wusste ich genau, aber ich schwieg und erhob keinen Einwand gegen die Hochzeit. Doch an dem Tag, an dem Kimya mit Schams verheiratet werden sollte, erwachte ich mit einem solchen Schmerz, wie ich ihn noch nie gefühlt hatte. Wie ein Ertrinkender nach Luft ringend setzte ich mich im Bett auf; doch sogleich ärgerte ich mich über mein Selbstmitleid und begann mich selbst ins Gesicht zu schlagen, immer und immer wieder. Ein erstickter Seufzer entrang sich meinem Mund. Und dieser Laut ließ mich erkennen, dass ich nicht mehr der Sohn meines Vaters war.
Ich hatte keine Mutter. Keinen Vater. Keinen Bruder. Und keine Kimya. Ich war ganz allein auf der Welt. Der letzte Rest Achtung für meinen Vater war über Nacht verschwunden. Kimya war für ihn wie eine Tochter, und ich hatte angenommen, sie liege ihm am Herzen. Doch der einzige Mensch, der ihm wirklich am Herzen lag, war offenbar Schams-e Tabrizi. Wie konnte er Kimya nur mit einem solchen Mann verheiraten? Jeder wusste, dass Schams einen fürchterlichen Ehemann abgeben würde. Je mehr ich darüber nachdachte, umso klarer sah ich, dass mein Vater um Schams’ Sicherheit willen Kimyas Glück geopfert hatte – und damit auch das meine.
Mit diesen Gedanken quälte ich mich den ganzen Tag herum und musste dabei auch noch die Vorbereitungen mitansehen. Das Haus wurde geputzt und geschmückt, und in dem Zimmer, in dem die Frischvermählten schlafen würden, versprengte man Rosenwasser, um die bösen Geister abzuwehren. Aber den bösesten Geist von allen vergaßen sie! Wie glaubten sie denn Schams vertreiben zu können?
Am späten Nachmittag hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte ganz entschieden nicht an einer Feier teilnehmen, die mir nur Qualen bereiten würde, und verließ das Haus.
Da ertönte hinter mir laut und schroff die Stimme meines Bruders. »Warte, Aladdin! Wo willst du hin?«
»Ich übernachte heute bei Irschad«, sagte ich, ohne ihn anzusehen.
»Bist du von Sinnen? Du kannst doch nicht einfach vor der Hochzeit davonlaufen! Es würde deinem Vater das Herz brechen.«
Da stieg die Wut in mir hoch. »Und was ist mit den Herzen, die unser Vater bricht?«
»Wovon redest du?«
»Verstehst du denn nicht? Unser Vater hat diese Heirat eingefädelt, um Schams zufriedenzustellen und dafür zu sorgen, dass er
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