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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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wird man von seiner Traurigkeit geheilt.«
    Für mich war Traurigkeit nichts Schlimmes. Eher im Gegenteil – Heuchelei macht die Menschen glücklich, die Wahrheit aber macht sie traurig. Doch das offenbarte ich dem Bauern nicht, sondern sagte: »Begleite mich bis Konya und erzähle mir unterwegs mehr über Rumi!«
    Ich band die Zügel meines Pferdes an den Karren des Bauern, stieg auf und setzte mich neben ihn. Zum Glück machte die zusätzliche Last dem Ochsen nichts aus, er fiel so oder so wieder in seinen quälend langsamen Trott. Der Bauer bot mir Brot und Ziegenkäse an. Wir unterhielten uns und aßen. So kam ich, während die Sonne vom indigoblauen Himmel herniederbrannte und die wachsamen Blicke der Stadtheiligen auf mir ruhten, in Konya an.
    »Pass gut auf dich auf, mein Freund«, sagte ich, als ich vom Karren sprang und die Zügel meines Pferdes losband.
    »Du musst auf jeden Fall zur Predigt kommen!«, rief der Bauer erwartungsvoll.
    Ich nickte und winkte ihm nach. »Inschallah.«
    Auch wenn ich sehr gespannt auf die Predigt war und es kaum erwarten konnte, Rumi kennenzulernen, wollte ich mich erst einmal in der Stadt umsehen und in Erfahrung bringen, was die Leute von dem großen Prediger hielten. Ich wollte ihn durch fremde Augen sehen, durch freundliche und unfreundliche, liebende und hassende Augen, ehe ich ihn mit meinen eigenen betrachten würde.

HASAN, DER BETTLER
    KONYA, 17. OKTOBER 1244
    B ei Gott, ob ihr es glauben wollt oder nicht – sie nennen diese Hölle »heiliges Leiden«. Ich bin ein in der Vorhölle gefangener Aussätziger. Weder die Toten noch die Lebenden wollen mich bei sich haben. Auf der Straße deuten die Mütter auf mich, um ihre unfolgsamen Kleinen zu erschrecken, und die Kinder bewerfen mich mit Steinen. Die Handwerker verscheuchen mich von ihren Werkstätten, um das Unglück, das mir überallhin folgt, abzuwehren, und jede Schwangere dreht das Gesicht weg, wenn ihr Blick auf mich fällt, weil sie fürchtet, sonst ein verkrüppeltes Kind zur Welt zu bringen. Aber alle diese Leute scheinen nicht zu wissen, dass, sosehr sie darauf aus sind, mich zu meiden, ich noch viel mehr darauf aus bin, ihnen und ihren mitleidigen Blicken zu entgehen.
    Zuerst verändert sich die Haut, sie wird dicker und dunkler. Unterschiedlich große Flecken von der Farbe fauler Eier erscheinen an den Schultern, Knien, Armen und im Gesicht. In dieser Zeit juckt und brennt es oft, doch dann verebbt der Schmerz, oder aber man fühlt ihn einfach nicht mehr. Dann werden die Flecken größer, sie schwellen an und verwandeln sich in hässliche Beulen. Die Hände werden zu Klauen, und das Gesicht verformt sich bis zur Unkenntlichkeit. Jetzt, so kurz vor dem Ende, kann ich meine Lider nicht mehr schließen. Tränen und Speichel fließen, ohne dass ich es verhindern kann. Sechs Fingernägel sind mir schon abgefallen, ein siebter wird bald folgen. Merkwürdigerweise ist mein Haar noch da. Wahrscheinlich sollte ich mich deshalb glücklich schätzen.
    Ich habe gehört, dass die Leprösen in Europa außerhalb der Stadtmauern leben müssen. Wir hier dürfen in der Stadt bleiben, solange wir eine Glocke bei uns tragen, mit der wir die anderen vor unserer Gegenwart warnen. Man erlaubt uns auch zu betteln, und das ist gut, denn sonst müssten wir wohl verhungern. Das Betteln ist eine von zwei Möglichkeiten zu überleben. Die zweite ist das Beten. Nicht weil Gott den Aussätzigen besondere Aufmerksamkeit schenkt, sondern weil die Leute aus irgendeinem Grund glauben, Er täte es. Und so verachten uns die Städter zwar, aber zugleich haben sie Ehrfurcht vor uns. Sie bezahlen uns, damit wir für die Kranken, die Krüppel und die Alten beten. Sie bezahlen und beköstigen uns gut in der Hoffnung, unseren Lippen ein paar zusätzliche Gebete abzuringen. Auf der Straße sind wir schlechter dran als die letzten verlausten Köter, aber dort, wo Tod und Verzweiflung herrschen, sind wir den Sultanen gleich.
    Wenn mich jemand zum Beten angestellt hat, senke ich den Kopf, gebe unverständliche arabische Laute von mir und tue so, als wäre ich ins Gebet vertieft. Ich kann das Beten nur vortäuschen, denn ich glaube nicht, dass Gott mich hört. Ich wüsste keinen Grund, weshalb er es tun sollte.
    Obwohl das Beten viel einträglicher ist, fällt mir das Betteln leichter. Da betrüge ich wenigstens niemanden. Der Freitag ist der beste Tag fürs Betteln, außer während des Ramadan, da bringt der ganze Monat viel ein. Am letzten Tag des

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