Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
eine Eiche und betrachtete die in der Ferne aufragende Stadt, während mein Pferd sich an dem spärlichen Gras gütlich tat. Die Minarette von Konya funkelten in der Sonne wie Scherben aus Glas. Hin und wieder bellte ein Hund, Esel schrien, Kinder lachten, und Händler riefen lauthals ihre Ware aus – der übliche Lärm einer pulsierenden Stadt. Welche Freuden und Leiden mögen die Menschen in diesem Augenblick hinter den geschlossenen Türen und vergitterten Fenstern durchleben, fragte ich mich. Das Umherziehen lag mir im Blut, und so war mir der Gedanke, mich in einer Stadt niederlassen zu müssen, nicht angenehm, doch mir kam eine weitere grundlegende Regel in den Sinn: Versuche, den Veränderungen, die dir begegnen, nicht auszuweichen, sondern lass das Leben durch dich leben. Und sei nicht in Sorge darüber, dass dein Leben auf den Kopf gestellt werden könnte. Denn woher willst du wissen, dass die Seite, die du gewohnt bist, besser ist als die neue?
Eine freundliche Stimme riss mich aus meinen Träumereien. »As-salamu alaikum, Derwisch!«
Ich wandte mich um. Hinter mir stand ein Karren, auf dem ein kräftiger Bauer mit olivbrauner Haut und einem herabhängenden Schnurrbart saß. Der vorgespannte Ochse war so mager, dass man glaubte, er würde sich jeden Augenblick zum Sterben niederlegen.
»Wa-alaikum s-salam, Gott möge dich segnen!«, rief ich.
»Warum sitzt du hier so ganz allein? Wenn du es satthast, auf deinem Pferd zu reiten, kann ich dich mitnehmen.«
Ich lächelte. »Danke, aber ich glaube, zu Fuß bin ich schneller als mit deinem Ochsen.«
»Mach mir den Ochsen nicht schlecht!«, erwiderte der Bauer beleidigt. »Er ist zwar alt und schwach, aber immer noch mein bester Freund.«
Durch diese Worte in die Schranken gewiesen sprang ich auf und verbeugte mich vor dem Mann. Wie hatte ich, ein winziger Teil von Gottes gewaltigem Schöpfungskreis, ein anderes Element dieses Kreises, ob nun Tier oder Mensch, herabsetzen können?
»Ich bitte dich und deinen Ochsen um Verzeihung«, sagte ich. »Bitte vergebt mir.«
Ein Hauch von Verwunderung huschte über das Gesicht des Bauern. Einen Moment lang stand er ausdruckslos da und versuchte zu erkennen, ob ich mich über ihn lustig machte oder nicht. »So etwas tut sonst nie jemand«, sagte er schließlich und schenkte mir ein warmes Lächeln.
»Deinen Ochsen um Verzeihung bitten, meinst du?«
»Ja, das auch. Aber eigentlich wollte ich sagen, dass mich nie jemand um Verzeihung bittet. Normalerweise ist es genau umgekehrt – ich entschuldige mich ständig bei anderen. Sogar wenn man mir unrecht tut, entschuldige ich mich.«
Seine Worte rührten an mein Herz. »Der Koran sagt, dass jeder Einzelne in der bestmöglichen Form erschaffen wurde. Das ist eine der Regeln«, sagte ich sanft.
»Welche Regel denn?«
»Gott arbeitet an der äußeren und inneren Vollendung des Werks, das du darstellst. Er ist unablässig mit dir beschäftigt. Jeder Mensch ist eine in Ausführung befindliche Arbeit, die sich langsam, aber unaufhaltsam ihrer Vollkommenheit nähert. Jeder von uns ist ein unvollendetes Kunstwerk, das darauf wartet und danach strebt, vollendet zu werden. Gott widmet sich jedem Einzelnen von uns, denn das Menschsein ist wie die höchste Schreibkunst, und jeder einzelne Punkt ist gleichermaßen wichtig für das Gesamtbild.«
»Bist du auch hier, um dir die Predigt anzuhören?«, fragte der Bauer mit neu erwachtem Interesse. »Es wird wohl ein großes Gedränge geben. Er ist ein außergewöhnlicher Mensch.«
Als ich begriff, von wem er sprach, blieb mir für einen Moment das Herz stehen. »Was ist denn so ungewöhnlich an Rumis Predigten?«
Ein Weilchen betrachtete der Bauer schweigend und mit zusammengezogenen Augen den Horizont. Er schien mit den Gedanken nirgendwo und überall zu sein.
Schließlich sagte er: »Ich komme aus einem Dorf, dem viel Unglück widerfahren ist. Erst die Hungersnot, dann die Mongolen. Die brandschatzten und plünderten jedes Dorf, das auf ihrem Weg lag. Aber in den großen Städten richteten sie noch mehr Unheil an. Sie eroberten Erzurum, Sivas und Kayseri, metzelten alle männlichen Bewohner nieder und verschleppten die Frauen. Ich selbst habe zwar weder Angehörige noch mein Haus verloren, aber mir wurde trotzdem etwas geraubt: meine Lebensfreude.«
»Was hat das mit Rumi zu tun?«, wollte ich wissen.
Der Bauer richtete den Blick wieder auf seinen Ochsen und murmelte tonlos: »Es heißt, wenn man der Predigt Rumis lauscht,
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