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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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unzählige Namen. Nur neunundneunzig von ihnen sind uns bekannt. Wenn Gott so viele Namen hat, wie kann dann ein Mensch, der ja Sein Ebenbild ist, ohne Namen sein?«
    Weil ich darauf nichts zu entgegnen wusste, versuchte ich es gar nicht erst, sondern lenkte ein. »Ich hatte einmal eine Frau und eine Mutter. Sie nannten mich Hasan.«
    »Hasan also.« Der Derwisch nickte. Und dann gab er mir zu meinem Erstaunen einen silbernen Spiegel. »Behalt ihn«, sagte er. »Ein guter Mensch hat ihn mir in Bagdad geschenkt, aber du brauchst ihn mehr als ich. Er wird dich daran erinnern, dass du Gott in dir trägst.«
    Bevor ich noch etwas erwidern konnte, kam es hinter uns zu einem Tumult. Zuerst dachte ich, in der Moschee hätten sie einen Taschendieb erwischt. Doch als die Leute immer lauter und gellender schrien, wurde mir klar, dass es sich um etwas Bedeutsameres handeln musste. Wegen eines Taschendiebs hätte man sich nicht so aufgeregt.
    Kurz darauf erfuhren wir, was los war. Eine als Käufliche bekannte Frau war als Mann verkleidet in der Moschee entdeckt worden. Mehrere Männer zerrten sie aus dem Gebäude, wobei sie ununterbrochen »Peitscht sie aus, die Betrügerin! Peitscht sie aus, die Hure!« brüllten.
    In dieser Stimmung erreichte der tobende Mob die Straße, und ich sah die junge, in Männerkleidung gehüllte Frau. Sie war totenbleich; aus ihren mandelförmigen Augen sprach das Grauen. Schon oft habe ich Vergeltungsmorde mitangesehen. Immer wieder verblüffte es mich, wie dramatisch sich Menschen verändern, sobald sie Teil einer Menge sind. Ganz gewöhnliche Männer ohne jede gewalttätige Vergangenheit – Handwerker, Händler, Hausierer – wurden grob bis hin zur Mordlust, wenn sie sich erst einmal zusammengeschlossen hatten. Vergeltungsmorde geschahen jeden Tag, und am Ende wurde die Leiche zur Schau gestellt, um alle anderen abzuschrecken.
    »Die arme Frau«, murmelte ich und drehte mich, eine Bemerkung erwartend, zu Schams-e Tabrizi um. Doch da war niemand.
    Dann sah ich den Derwisch auf die Menge zurasen wie einen brennenden, geradewegs in den Himmel geschossenen Pfeil. Ich sprang auf und lief ihm hinterher.
    Als er die Spitze der Prozession erreicht hatte, hob Schams seinen Stab wie eine Fahne in die Höhe und schrie aus vollem Halse: »Halt! Aufhören, Leute!«
    Mit einem Schlag herrschte Schweigen, und verdutzt starrte ihm die Meute entgegen.
    »Ihr solltet euch schämen!«, rief Schams-e Tabrizi und hieb mit dem Stab auf den Boden. »Dreißig Männer gegen eine Frau – ist das gerecht?«
    »Sie verdient keine Gerechtigkeit«, verkündete ein breitgesichtiger, dicker Mann mit einem schielenden Auge, der sich offenbar zum Anführer der eben entstandenen Gruppe erklärt hatte. Ich erkannte ihn sofort. Er hieß Baybars, gehörte der Stadtwache an und war wegen seiner Grausamkeit und Raffgier unter den Bettlern bestens bekannt.
    »Die Frau da hat sich als Mann verkleidet und sich in die Moschee eingeschlichen und brave Moslems getäuscht!«, sagte Baybars.
    »Willst du etwa einen Menschen bestrafen, weil er die Moschee aufsucht? Ist das ihr Verbrechen?«, fragte Schams-e Tabrizi voll Hohn.
    Die Frage sorgte einen Moment für Ruhe. So hatte den Vorfall offenbar noch keiner von ihnen betrachtet.
    »Sie ist eine Hure!«, rief ein anderer Mann, dessen Gesicht vor Wut dunkelrot angelaufen war. »Sie hat in einer heiligen Moschee nichts zu suchen!«
    Das reichte, um den Zorn der Menge aufs Neue zu entfachen. »Hure! Hure!«, schrien einige weiter hinten. »Nehmen wir uns die Hure vor!«
    Wie auf einen Befehl hin sprang ein junger Mann herbei, griff nach dem Turban der jungen Frau und zerrte heftig daran. Der Turban löste sich von ihrem Kopf, und ihr blondes, sonnenblumenhelles Haar fiel in anmutigen Wellen herab.
    Schams hatte die widerstreitenden Gefühle der Männer wohl erkannt, denn er setzte seine Strafpredigt nahtlos fort. »Ihr müsst euch entscheiden, Brüder. Hegt ihr wirklich Verachtung für diese Frau, oder begehrt ihr sie nicht vielmehr?«
    Mit diesen Worten ergriff er die Hand der Hure und zog sie zu sich, weg von dem jungen Burschen und dem Mob. Sie versteckte sich hinter ihm wie ein kleines Mädchen, das sich hinter die Röcke der Mutter flüchtet.
    »Du machst einen großen Fehler«, sagte der Anführer der Gruppe mit lauter, das Raunen der anderen übertönender Stimme. »Du bist ein Fremder in dieser Stadt und kennst unsere Sitten nicht. Halt dich da raus!«
    Ein anderer fiel in die Drohung

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