Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
länger als sonst brauchte, um das Buch zu Ende zu lesen. Aber die Geschichte gefiel ihr, und bei jeder neuen Regel von Schams überdachte sie ihr ganzes Leben.
Vor den Kindern benahm sie sich ganz normal. Auch die Kinder benahmen sich wie immer. Aber sobald sie mit David allein war, bemerkte sie, wie er sie so merkwürdig ansah, als wunderte er sich über diese Frau, die ihren Mann nicht fragte, wo er die Nacht über gewesen war. In Wahrheit wollte Ella nichts wissen, womit sie nicht würde umgehen können. Je weniger sie über die Affären ihres Mannes erfuhr, umso weniger würden sie sie belasten, dachte sie. Es stimmte, was man über den Zustand des Nichtwissens oft sagte: Es war das reinste Glück.
Nur ein einziges Mal war dieses Glück getrübt worden, und zwar am Weihnachtstag des vorigen Jahres, als die an David adressierte Umfrage eines örtlichen Hotels im Briefkasten lag. Der Kundenservice wollte wissen, ob Davids Aufenthalte dort zu seiner Zufriedenheit verlaufen seien. Ella ließ den Brief zuoberst auf einem Stapel Post liegen und beobachtete abends, wie er den Umschlag öffnete und das Schreiben las.
»Ein Bewertungsformular für Hotelgäste – das hat mir gerade noch gefehlt«, hatte er halbherzig lächelnd gesagt. »Wir hatten da letztes Jahr eine Zahnarztkonferenz, und die haben offenbar sämtliche Teilnehmer in ihre Kundenliste aufgenommen.«
Sie glaubte ihm. Zumindest der Teil in ihr, der keinen Staub aufwirbeln wollte. Der andere Teil war zynisch und voller Argwohn. Und genau dieser Teil fand am nächsten Tag die Telefonnummer des Hotels heraus, wählte sie und bekam zu hören, was Ella sowieso schon gewusst hatte: Weder in diesem Jahr noch im Jahr zuvor war dort eine Zahnarztkonferenz abgehalten worden.
In ihrem tiefsten Inneren gab Ella sich selbst die Schuld. Das Altern hatte sie nicht schöner gemacht, und in den letzten sechs Jahren hatte sie auch ein wenig zugelegt. Die Kochseminare machten es noch schwieriger, die Extrapfunde loszuwerden, obwohl es in ihrer Gruppe auch Frauen gab, die mehr und besser kochten als sie und trotzdem im Vergleich mit ihr nur halbe Portionen waren.
Im Rückblick auf ihr Leben musste sie feststellen, dass Rebellion nie ihr Ding gewesen war. Nie hatte sie hinter verschlossenen Türen mit irgendwelchen Jungs Gras geraucht, nie war sie aus einer Bar geworfen worden, nie hatte sie die Pille danach eingenommen, Wutanfälle gehabt oder ihre Mutter angelogen. Nie die Schule geschwänzt. Nie als Teenager Sex gehabt. In ihrem Umfeld hatte es nur so gewimmelt von gleichaltrigen Mädchen, die Abtreibungen vornehmen ließen oder ihre unehelichen Babys zur Adoption freigaben, während sie das alles mitansah, als handelte es sich um einen Fernsehbericht über eine Hungersnot in Äthiopien. Dass es solche Tragödien auf der Welt gab, machte sie zwar traurig, aber im Grunde betrachtete sie sich selbst nicht als dem Universum zugehörig, in dem diese Unseligen lebten.
Sie war nie eine große Partygängerin gewesen, nicht einmal als Teenager. Freitagabends blieb sie lieber zu Hause und las ein gutes Buch, als bei irgendeiner wilden Party mit fremden Leuten auf den Putz zu hauen.
»Warum nur bist du nicht wie Ella?«, fragten die Mütter in der Gegend ihre Töchter. »Die bringt sich nie in Schwierigkeiten.«
Während diese Mütter sie toll fanden, war sie für die Jugendlichen nur eine humorlose Streberin. Kein Wunder, dass sie in der Highschool nicht gerade beliebt war. Einmal sagte eine Schulfreundin zu ihr: »Weißt du, was dein Problem ist? Du nimmst das Leben zu ernst. Du bist so beschissen langweilig.«
Sie hörte aufmerksam zu und erwiderte, sie werde mal darüber nachdenken.
Nicht einmal ihre Frisur hatte sich im Lauf der Jahre nennenswert verändert – sie trug ihr glattes, langes honigblondes Haar entweder zum strengen Dutt geschlungen, oder es fiel ihr zum Zopf geflochten über den Rücken. Sie schminkte sich kaum, benutzte nur einen rotbraunen Lippenstift und einen moosgrünen Eyeliner, der, ihrer Tochter zufolge, die graublauen Augen mehr versteckte als betonte. Jedenfalls bekam sie nie zwei perfekt geschwungene Linien hin und hatte, wenn sie aus dem Haus ging, meist ein dicker und ein dünner umrandetes Auge.
Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Entweder verhielt sie sich zu aggressiv und zudringlich (im Fall von Jeannettes Heiratsplänen) oder zu passiv und duldsam (was die Affären ihres Mannes betraf). Es gab den
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