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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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ein. »Was für ein Derwisch bist du überhaupt? Hast du nichts Besseres zu tun, als dich für eine Hure einzusetzen?«
    Schams-e Tabrizi schwieg einen Moment, als dächte er über die Fragen nach. Kein Zorn war ihm anzusehen, er blieb weiterhin ruhig. Schließlich sagte er: »Warum ist euch diese Frau überhaupt aufgefallen? Ihr geht in die Moschee und richtet eure Aufmerksamkeit dann mehr auf die Leute um euch als auf Gott? Wenn ihr die guten Gläubigen wärt, die ihr zu sein behauptet, hättet ihr diese Frau nicht einmal bemerkt, wenn sie nackt gewesen wäre. Geht jetzt zurück zur Predigt und macht es diesmal besser!«
    Verlegenes Schweigen legte sich über die ganze Straße. Eine Weile waren die auf dem Gehsteig dahinjagenden Blätter das Einzige, was sich bewegte.
    »Los, Leute!«, rief Schams-e Tabrizi und fuchtelte mit seinem Stab, um die Männer zu verscheuchen wie Fliegen. »Geht zurück in die Moschee!«
    Sie machten zwar nicht kehrt und gingen, traten aber alle ein paar Schritte zurück und blieben schwankend stehen, unschlüssig, wie weiter zu verfahren sei. Ein paar sahen zur Moschee hinüber, als erwägten sie, dorthin zurückzukehren. Genau in diesem Augenblick nahm die Hure all ihren Mut zusammen und kam hinter dem Derwisch hervor. Flink wie ein Kaninchen ergriff sie die Flucht und huschte mit fliegenden Haaren in die nächste Seitenstraße.
    Nur zwei Männer machten sich daran, sie zu verfolgen. Doch Schams-e Tabrizi stellte sich ihnen in den Weg und schwang seinen Stab so unerwartet und heftig vor ihren Füßen, dass sie darüber stolperten und lang auf den Boden schlugen. Ein paar Umstehende lachten bei dem Anblick, auch ich gehörte zu ihnen.
    Beschämt und bestürzt standen die zwei Männer auf, doch die Hure war längst verschwunden, und der Derwisch setzte seinen Weg fort. Seine Arbeit hier war getan.

SULEIMAN, DER SÄUFER
    KONYA, 17. OKTOBER 1244
    B is es zu dem Tumult kam, hatte ich, friedlich an die Wand des Gasthofs gelehnt, vor mich hingedöst. Doch bei dem Lärm, der dann draußen entstand, fuhr ich fast aus der Haut.
    »Was ist los?«, rief ich, während sich meine Augen ruckartig öffneten. »Greifen die Mongolen an?«
    Für diese Frage erntete ich Gelächter. Ich drehte mich um und sah, dass sich mehrere andere Gäste über mich lustig machten. Drecksäcke!
    »Nur keine Sorge, alter Säufer«, schrie Hristos, der Wirt. »Keine Mongolen in Sicht. Es ist Rumi, er zieht gerade mit einem Heer von Bewunderern vorbei.«
    Ich ging zum Fenster und sah hinaus. Tatsächlich, da waren sie – eine aufgeregte Menge von Schülern und Anhängern, die immer wieder »Gott ist groß! Gott ist groß!« riefen. In ihrer Mitte ritt, hoch erhoben, Kraft und Zuversicht ausstrahlend, Rumi auf einem Schimmel. Ich öffnete das Fenster, streckte den Kopf hinaus und sah mir das Ganze an. Die Prozession zog langsamen Schrittes vorbei. Einige Leute waren so nah, dass ich mühelos mehrere Köpfe hätte berühren können. Plötzlich kam mir eine hervorragende Idee: Ich würde ein paar von ihnen den Turban klauen!
    Ich holte mir Hristos’ hölzernen Rückenkratzer, nahm ihn in eine Hand und hielt mit der anderen das Fenster offen. Dann beugte ich mich vor und erwischte den Turban eines Mannes in der Menge. Gerade als ich den Turban wegziehen wollte, sah ein anderer zufällig hoch und erblickte mich.
    »As-salamu alaikum«, sagte ich breit grinsend.
    »Ein Moslem in einer Kaschemme! Schäm dich!«, rief der Mann. »Weißt du nicht, dass der Wein Teufelswerk ist?«
    Ich öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, aber noch bevor ich einen Laut hervorgebracht hatte, zischte mir etwas Scharfes am Kopf vorbei. Wäre ich nicht im letzten Moment in Deckung gegangen, hätte mir das Ding den Schädel eingeschlagen. So aber war es durch das offene Fenster geschossen und auf dem Tisch des hinter mir sitzenden persischen Händlers gelandet. Der war viel zu betrunken, um zu begreifen, was geschehen war. Er nahm den Stein in die Hand und begutachtete ihn, als wäre er gerade vom Himmel gefallen.
    »Mach das Fenster zu und geh zurück an deinen Tisch, Suleiman!«, brüllte Hristos. Seine Stimme war heiser vor Angst.
    »Hast du das gesehen?«, fragte ich, während ich auf meinen Tisch zuwankte. »Da hat einer einen Stein auf mich geschmissen. Ich hätte tot sein können!«
    Hristos zog eine Augenbraue hoch. »Tut mir zwar leid, aber was erwartest du? Du weißt doch, dass es Leute gibt, die keinen Moslem in einem Gasthof sehen

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