Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
an, und ich hatte nichts dagegen, denn ich liebte Rosen.
Genau so stelle ich mir den Glauben vor – wie einen verborgenen Rosengarten, durch den ich einst schlenderte und dessen Düfte ich einsog, den ich jetzt aber nicht mehr betreten kann. Ich will, dass Gott wieder mein Freund ist. Mit dieser Sehnsucht umrunde ich den Garten auf der Suche nach dem Eingang und in der Hoffnung, ein Tor zu finden, das mir Einlass schenkt.
Als Sesam und ich die Moschee betraten, traute ich meinen Augen nicht. Sie war bis auf den letzten Platz mit Männern jeden Alters und jeden Berufsstands gefüllt; sogar im hinteren Bereich, der sonst den Frauen vorbehalten ist, standen sie. Ich wollte schon aufgeben und wieder gehen, da bemerkte ich einen Bettler, der sich gerade erhoben hatte und sich einen Weg zum Ausgang bahnte. Ich dankte meinem Glücksstern und drängelte mich auf den freien Platz. Sesam ließ ich draußen warten.
So kam es, dass ich in einer Moschee voller Männer den großen Rumi hörte. Ich wollte gar nicht daran denken, was geschehen würde, wenn sie herausfänden, dass eine Frau, obendrein eine Hure, unter ihnen war. Doch dann schob ich die düsteren Gedanken beiseite und richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf die Predigt.
»Gott schuf das Leid, um die Freude durch ihr Gegenteil zu offenbaren«, sagte Rumi. »Alles wird sichtbar durch sein Gegenteil. Da Gott kein Gegenteil hat, bleibt er verborgen.«
Der Prediger ließ seine Stimme ansteigen und anschwellen wie einen vom Schmelzwasser gespeisten Gebirgsbach. »Sehet die Erniedrigung der Erde und die Erhöhung des Himmels! Wisset, dass alles in der Welt so beschaffen ist: die Flut und die Dürre, der Krieg und der Frieden. Nie dürft ihr vergessen, dass Gott nichts vergeblich erschuf, sei es der Zorn oder die Langmut, die Ehrlichkeit oder die List!«
Ich saß da und verstand, dass alles einem Zweck diente. Die Schwangerschaft meiner Mutter und der Krieg in ihrem Schoß, die unheilbare Einsamkeit meines Bruders und selbst der Mord an meinem Vater und seiner Frau, die grauenhafte Zeit im Wald und jede Gewalttat, die ich in den Straßen Konstantinopels mitangesehen hatte – alles trug auf seine Weise zu meiner Geschichte bei. Hinter all der Mühsal gab es einen höheren Plan. Ich konnte ihn zwar nicht richtig erkennen, aber ich spürte ihn mit meinem ganzen Herzen. Während ich an jenem Nachmittag in einer brechend vollen Moschee den Worten Rumis lauschte, überkam mich eine innere Ruhe, so angenehm und tröstlich wie der Anblick meiner Mutter beim Brotbacken.
HASAN, DER BETTLER
KONYA, 17. OKTOBER 1244
B rodelnde Wut durchflutete meinen Bauch, als ich unter dem Ahornbaum saß. Ich war noch immer böse auf Rumi wegen seiner flammenden Rede über das Leid – ein Thema, von dem er nicht das Geringste verstand. Quälend langsam kroch der Schatten des Minaretts über die Straße. Halb dösend, halb die Vorbeigehenden musternd war ich kurz davor einzuschlafen, als mein Blick auf einen Derwisch fiel, den ich noch nie gesehen hatte. Er war in schwarze Fetzen gehüllt und trug einen langen Stab in der Hand. Sein Gesicht war völlig haarlos, und in einem seiner Ohren steckte ein winziger Silberring. Er sah so anders aus als alle anderen, dass mein Blick unwillkürlich an ihm hängen blieb.
Da er sich nach allen Seiten umsah, hatte der Derwisch mich schon nach kurzer Zeit bemerkt. Anstatt die Augen abzuwenden, wie es alle taten, die mich zum ersten Mal sahen, legte er die rechte Hand ans Herz und begrüßte mich wie einen alten Freund. Ich blickte mich verblüfft um, weil ich sicher sein wollte, dass er niemand anderen meinte. Aber da waren nur ich und der Ahorn. Verwirrt und benommen legte ich meinerseits die Hand ans Herz und erwiderte seinen Gruß.
Der Derwisch ging gemächlich auf mich zu. Ich senkte den Blick in der Erwartung, dass er eine Kupfermünze in meine Schale werfen oder mir ein Stück Brot geben würde. Stattdessen ging er in die Knie, bis er auf Augenhöhe mit mir war.
»As-salamu alaikum, Bettler«, sagte er.
»Wa-alaikum s-salam, Derwisch«, erwiderte ich. Meine Stimme erschien mir heiser und fremd. Es war mir schon so lange kein Bedürfnis mehr gewesen, mit anderen Menschen zu sprechen, dass ich ganz vergessen hatte, wie meine Stimme klang.
Er stellte sich als Schams-e Tabrizi vor und fragte mich nach meinem Namen.
Ich lachte. »Wozu braucht einer wie ich schon einen Namen?«
»Jeder hat einen Namen«, widersprach mir der Derwisch. »Gott hat
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