Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
mich nach meinem Namen.
»Suleiman, der Säufer aus Konya – zu deinen Diensten«, sagte ich und zog mir einen lockeren Zahn aus dem Mund. »Wie schön, dir zu begegnen.«
»Du blutest«, murmelte Schams und begann mein Gesicht abzuwischen. »Nicht nur äußerlich, auch in deinem Inneren.«
Er zog ein Glasfläschchen aus der Tasche seines Gewands. »Trag diese Salbe auf deine Wunden auf. Ein guter Mensch in Bagdad hat sie mir geschenkt, aber du brauchst sie mehr als ich. Die Wunde in deinem Inneren jedoch, das sollst du wissen, ist tiefer als die Wunden deines Körpers. Um diese Wunde solltest du dich kümmern. Das Fläschchen wird dich daran erinnern, dass du Gott in dir trägst.«
»Danke«, brachte ich gerade noch hervor, so sehr rührte mich seine Freundlichkeit. »Dieser Wachmann … er hat mich mit der Peitsche verdroschen. Ich hätte es verdient, sagte er.«
Meine Stimme war ein kindliches Winseln, und ich merkte mit einem Mal, wie sehr es mich nach Trost und Mitgefühl verlangte.
Schams-e Tabrizi schüttelte den Kopf. »Man hat dir unrecht getan. Jeder Mensch sucht das Göttliche auf seine eigene Weise. Es gibt da eine Regel: Wir wurden alle nach Seinem Bilde geschaffen und doch jeder anders und einzig. Keine zwei Menschen auf der Welt sind gleich. Keine zwei Herzen schlagen im selben Rhythmus. Wenn Gott alle Menschen gleich gewollt hätte, hätte er sie so erschaffen. Wer Unterschiede missachtet und anderen seine Meinung aufzwingt, tut deshalb nichts anderes, als Gottes heiligen Plan zu missachten.«
»Das klingt gut.« Ich wunderte mich, wie ruhig meine Stimme jetzt war. »Aber habt ihr Sufis denn nie Zweifel an Ihm?«
Schams-e Tabrizi lächelte matt. »Oh doch, und Zweifel sind etwas Gutes. Sie zeigen, dass man lebt und auf der Suche ist.«
Er sagte es in einer Art Singsang, so als würde er es aus einem Buch vortragen.
»Außerdem wird niemand über Nacht zum Gläubigen. Da hält sich einer für gläubig, doch dann geschieht etwas in seinem Leben, und er verliert den Glauben. Später wird er wieder gläubig, dann wieder ungläubig und immer so fort. Bis wir eine bestimmte Stufe erreicht haben, schwanken wir ständig. Anders kommt man nicht voran. Mit jedem nächsten Schritt nähern wir uns der Wahrheit.«
»Wenn Hristos das hören würde, würde er dir raten, deine Zunge zu hüten. Er sagt immer, nicht jedes Wort ist für jedes Ohr gedacht.«
»Da hat er nicht unrecht.« Schams-e Tabrizi lachte kurz auf und erhob sich. »Komm, ich bringe dich nach Hause. Deine Wunden müssen versorgt werden, und du brauchst jetzt eine Menge Schlaf.«
Er half mir auf die Beine, aber ich war kaum imstande zu gehen. Da hob mich der Derwisch kurzerhand hoch, als wäre ich federleicht, und packte mich auf seinen Rücken.
»Ich warne dich – ich stinke«, murmelte ich voller Scham.
»Ist schon gut, Suleiman, das macht nichts.«
So trug mich der Derwisch, ohne auf das Blut, den Urin und den Gestank zu achten, durch die engen Gassen Konyas. Die Häuser und Hütten, an denen wir vorbeikamen, lagen in tiefem Schlummer. Hinter den Gartenmauern bellten laut und grimmig die Hunde und verkündeten allen, dass wir da draußen waren.
»Ich habe mir immer den Kopf über den Wein in den Sufi-Gedichten zerbrochen«, sagte ich. »Ist das echter oder symbolischer Wein, den die Sufis da besingen?«
»Was ist schon der Unterschied, mein Freund?«, sagte Schams-e Tabrizi und ließ mich vor meinem Haus von seinen Schultern gleiten. »Auch zu dieser Frage gibt es eine Regel: Wenn ein Mensch, der Gott wirklich liebt, in eine Schenke einkehrt, wird die Schenke seine Gebetsnische; wenn aber ein Weintrinker in die Gebetsnische geht, wird sie zu seiner Schenke. In allem, was wir tun, gibt nur unser Herz den Ausschlag, nicht der äußere Schein. Sufis beurteilen andere Menschen nicht danach, wie sie aussehen oder wer sie sind. Wenn ein Sufi einen anderen Menschen betrachtet, hält er beide Augen geschlossen und öffnet ein drittes Auge – das Auge, das in das innere Reich eines Menschen blickt.«
Als ich nach dieser langen, anstrengenden Nacht allein in meinem Haus lag, dachte ich noch lange über das Geschehene nach. Obwohl ich so elend war, empfand ich tief im Inneren eine wohlige Ruhe. Nur ganz kurz war sie zu spüren, und ich wünschte, sie würde nie mehr vergehen. In diesem Augenblick wusste ich, dass es doch einen Gott gab und dass Er mich liebte.
Mein Körper war eine einzige Wunde, und doch hatte ich keine Schmerzen
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