Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Dilemma. Einerseits glauben wir an die Freiheit und die Macht des Individuums unabhängig von Gott, Staat und Gesellschaft. Die Menschen werden in vielerlei Hinsicht immer ichbezogener, und die Welt wird mehr und mehr materialistisch. Andererseits wird die Menschheit als Ganzes immer spiritueller. Nachdem wir uns so lange auf die Vernunft verlassen haben, ist jetzt offenbar ein Punkt erreicht, an dem wir zu der Einsicht gelangen, dass dem Verstand Grenzen gesetzt sind.
Genau wie im Mittelalter explodiert das Interesse an der Spiritualität heute geradezu. Immer mehr Menschen im Westen versuchen sich inmitten ihres geschäftigen Lebens einen Raum für die Spiritualität zu schaffen. Sie haben dabei zwar die besten Absichten, wenden aber oft unpassende Methoden an. Spiritualität ist nicht einfach eine neue Sauce für das gleiche alte Gericht. Sie lässt sich unserem Leben nicht hinzufügen, ohne dass das Leben tiefgreifende Veränderungen erfährt.
Du kochst ja so gern. Wusstest du, dass Schams die Welt mit einem riesigen Kessel vergleicht, in dem etwas sehr Großes kocht? Was das ist, wissen wir noch nicht. Alles, was wir tun, fühlen und denken, ist Bestandteil dieser Mixtur. Jeder muss sich fragen, was er diesem Kessel hinzufügt. Geben wir Groll, Feindseligkeit, Wut und Gewalt hinein? Oder setzen wir Liebe und Harmonie zu?
Was meinst du, liebe Ella – welche Zutaten kommen von dir in den kollektiven Menschheitseintopf hinein? Immer wenn ich über dich nachdenke, füge ich ein herzliches Lächeln hinzu.
Alles Liebe Aziz
DRITTER TEIL
Wind
ALLES VERÄNDERLICHE, SICH ENTFALTENDE UND HERAUSFORDERNDE
DER ZELOT
KONYA, 19. OKTOBER 1244
B ellend und knurrend standen die Hunde unter meinem offenen Fenster. Ich setzte mich im Bett auf, weil ich dachte, sie hätten einen Räuber bemerkt, der ins Haus einzubrechen versuchte, oder einen Betrunkenen, der gerade vorbeiging. Anständige Leute können heutzutage nicht mehr ungestört schlafen. Lüsternheit und Ausschweifungen allerorten. Das war nicht immer so. Bis vor einigen Jahren war diese Stadt wesentlich sicherer. Die Verderbnis der Sitten ist nichts anderes als eine scheußliche Krankheit, die ohne Warnung auftritt, sich rasch verbreitet und die Reichen wie die Armen, die Alten wie die Jungen gleichermaßen befällt. In diesem Zustand befindet sich unsere Stadt heute. Hätte ich nicht meine Stellung in der Madrasa, ich würde kaum mehr das Haus verlassen.
Zum Glück gibt es Menschen, die das Wohl der Gemeinde noch vor ihr eigenes stellen und Tag und Nacht dafür sorgen, dass Ordnung herrscht. Menschen wie meinen jungen Neffe Baybars. Meine Frau und ich sind stolz auf ihn. Es ist tröstlich zu wissen, dass zu dieser späten Stunde, wenn sich draußen die Spitzbuben, Verbrecher und Säufer austoben, Baybars und seine Helfer ihren Gang durch die Stadt machen und uns alle beschützen.
Nach dem frühen Tod meines Bruders wurde ich Baybars’ Vormund. Dieser junge Mann von festem Charakter trat vor sechs Monaten in den Dienst als Wachmann ein. Es gab Gerüchte, er sei nur dank meiner Stellung als Madrasa-Lehrer ausgewählt worden, aber das ist Unsinn! Baybars ist stark und mutig genug, um diese Aufgabe wahrzunehmen. Es wäre auch ein ausgezeichneter Soldat aus ihm geworden. Er wollte nach Jerusalem, die Kreuzritter bekämpfen, aber meine Frau und ich fanden, dass es an der Zeit für ihn wäre, sich niederzulassen und eine Familie zu gründen.
»Wir brauchen dich hier, mein Sohn«, sagte ich. »Auch hier muss vieles bekämpft werden.«
Ja, vieles, so vieles muss hier bekämpft werden. Erst heute Morgen sagte ich zu meiner Frau, dass wir in schwierigen Zeiten leben. Es ist ja kein Zufall, dass wir jeden Tag von einer neuen Tragödie erfahren. Wenn die Mongolen so siegreich waren, wenn die Christen ihre Sache erfolgreich weitertreiben konnten, wenn Stadt um Stadt, Dorf um Dorf von den Feinden des Islam geplündert wird, dann liegt das einzig an den Leuten, die nur dem Namen nach Moslems sind. Wenn den Menschen das Seil Gottes aus der Hand gleitet, geraten sie auf Irrwege. Die Mongolen wurden uns als Strafe für unsere Sünden geschickt. Und wenn es nicht die Mongolen gewesen wären, dann hätte sich eben ein Erdbeben, eine Hungersnot oder eine Überschwemmung ereignet. Wie viele Katastrophen müssen wir denn noch ertragen, bis die Sünder in dieser Stadt endlich verstehen und ihre Taten bereuen? Ich befürchte schon, dass es als Nächstes Steine vom Himmel regnen wird.
Weitere Kostenlose Bücher