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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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kann auch der Geruch nur symbolisch sein.«
    »Was faselt der denn daher?«, brummte der eine Wachmann.
    In diesem Moment trat der Mond hinter der Wolke hervor und legte sein sanftes, bleiches Licht über uns. Jetzt konnte ich das Gesicht des Mannes sehen, der mir gegenüberstand. Es war breit, mit einem vorstehenden Kinn, eisblauen Augen und einer hakigen Nase. Hätte er nicht mit einem Auge geschielt und ständig grimmig dreingeschaut, hätte man ihn gutaussehend nennen können.
    »Was treibst du um diese Zeit auf der Straße?«, fragte er noch einmal. »Woher kommst du, und wohin willst du?«
    Ich konnte mich nicht zusammennehmen. »Tiefsinnige Fragen, die du da stellst, mein Sohn. Wenn ich die Antwort wüsste, hätte ich das Rätsel um den Sinn des Lebens gelöst.«
    Der Wachmann runzelte die Stirn. »Machst du Dreckskerl dich lustig über mich?«, fragte er, holte blitzschnell eine Peitsche hervor und drosch damit durch die Luft.
    Sein Gehabe war so dramatisch, dass ich kichern musste. Daraufhin verpasste er mir einen Hieb auf die Brust. Das geschah so unerwartet, dass ich das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte.
    »Vielleicht lernst du auf diese Art, dich besser zu benehmen«, sagte der Wachmann, während er die Peitsche von einer Hand in die andere gleiten ließ. »Du weißt doch wohl, dass du eine große Sünde begehst, wenn du trinkst!«
    Mein eigenes Blut lief warm an mir hinunter, und mein Kopf dröhnte vor Schmerz, und doch konnte ich es einfach nicht fassen, dass ich mitten auf der Straße von einem jungen Mann, der mein Sohn hätte sein können, Prügel bezog.
    »Dann bestraft mich doch – nur zu!«, erwiderte ich. »Wenn Gottes Paradies nur für Leute wie euch gedacht ist, schmore ich sowieso lieber in der Hölle!«
    Wutentbrannt begann der junge Wachmann mit aller Kraft auf mich einzupeitschen. Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen, aber das half nicht viel. Jäh kam mir ein fröhliches altes Lied in den Sinn und zwängte sich durch meine blutverschmierten Lippen. Ich war wild entschlossen, mir meine Schmerzen nicht anmerken zu lassen, und sang bei jedem Hieb noch ein wenig lauter.
    »Küss mich, Geliebte, zerreiß mir das Herz!
    Deine Lippen sind süßer als Kirschwein,
    Schenk dich mir ein!«
    Mein Spott trieb den Wachmann zur Weißglut. Je lauter ich sang, desto heftiger schlug er zu. Nie hätte ich geglaubt, dass sich in einem einzigen Menschen so viel Wut ansammeln kann.
    »Es reicht, Baybars!«, rief der andere mit Panik in der Stimme. »Hör auf, Mann!«
    So unvermittelt, wie es begonnen hatte, hörte das Auspeitschen auf. Ich wollte unbedingt das letzte Wort haben, ihnen noch eine Frechheit mit auf den Weg geben, aber das Blut in meinem Mund verschluckte meine Stimme. Mir wurde schlecht, und eh ich mich’s versah, musste ich würgen.
    »Du bist ein Wrack«, sagte Baybars. »Was ich mit dir gemacht habe, hast du dir ganz allein zuzuschreiben.«
    Damit wandten sie sich ab und gingen davon.
    Ich weiß nicht, wie lang ich dort lag. Ein paar Minuten vielleicht, aber vielleicht auch die ganze Nacht. Die Zeit verlor ihre Bedeutung so wie alles andere auch. Der Mond verbarg sich hinter den Wolken; um mich war nichts als Finsternis, und wo ich eigentlich war, wusste ich nicht zu sagen. Ich schwebte zwischen Leben und Tod, und mir war es einerlei, wie ich enden würde. Dann verlor sich nach und nach meine Benommenheit, und jeder Bluterguss, jede Strieme, jede aufgeplatzte Stelle an meinem Körper begann mich zu peinigen. Unablässig wie die Wellen des Ozeans rollte der Schmerz über mich hinweg. In meinem Kopf drehte sich alles, meine Glieder taten furchtbar weh, ich stöhnte wie ein verwundetes Tier.
    Dann fiel ich wohl in Ohnmacht. Als ich die Augen wieder aufschlug, war mein Salwar von Urin durchtränkt, und jeder Teil meines Körpers bereitete mir grauenhafte Pein. Ich betete gerade zu Gott, er möge mich entweder der Sinne berauben oder irgendwie meinen Durst stillen, da hörte ich Schritte näher kommen. Mir setzte das Herz aus. Das konnte ein Gassenkind sein, aber auch ein Räuber, ja sogar ein Mörder. Doch dann dachte ich: Was habe ich schon zu fürchten? Ich war an dem Punkt angelangt, an dem nichts, was die Nacht bringen konnte, noch irgendeinen Schrecken für mich hatte.
    Aus dem Schatten trat ein großer, schlanker Derwisch, der völlig haarlos war. Er kniete sich neben mich auf den Boden und half mir, mich aufzusetzen. Dann stellte er sich als Schams-e Tabrizi vor und fragte

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