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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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er hörte mich gar nicht.
    Nun kamen auch seine Freunde näher. Harte, furchteinflößende, verächtliche Burschen, vor Selbstbewusstsein strotzend und mit einer Stinkwut im Bauch, die mich mit Beleidigungen überschütteten. Jetzt richteten alle Umstehenden den Blick auf uns, weil sie wissen wollten, warum es zu dem Tumult gekommen war; einige Männer versuchten, durch empörtes Zischen für Ruhe zu sorgen, aber keiner griff ein. Widerstandslos und schlaff wie ein Klumpen Teig ließ ich mich zum Ausgang drängen. Draußen hoffte ich, Sesam würde mir zu Hilfe kommen, und im äußersten Notfall, so beschloss ich, würde ich einfach weglaufen. Doch als wir auf der Straße waren, wurden die Männer streitbarer und richtig grob. Entsetzt erkannte ich, dass sie es in der Moschee aus Ehrfurcht vor dem Prediger und der Gemeinde sorgsam vermieden hatten, zu brüllen und mich herumzuschubsen, dass aber draußen auf der Straße nichts sie zurückhalten konnte.
    Mir war schon Schlimmeres im Leben widerfahren, aber so niedergeschlagen hatte ich mich, glaube ich, noch nie gefühlt. Da hatte ich nach jahrelangem Zögern endlich einen Schritt zu Gott hin gemacht, und was hatte Er getan? Er hatte mich aus Seinem Haus geworfen!
    »Ich hätte da nie hingehen dürfen«, sagte ich zu Sesam. Meine Stimme war brüchig wie Eis. »Sie haben ja recht – eine Hure hat nichts zu suchen in einer Moschee oder einer Kirche oder irgendeinem Gotteshaus.«
    »Sag das nicht!«
    Ich drehte mich nach dem um, der das gesagt hatte, und traute meinen Augen nicht. Er war es, der haarlose Wanderderwisch. Sesam begann zu grinsen, so sehr freute er sich, ihn wiederzusehen. Ich stürzte auf ihn zu, um ihm die Hände zu küssen, doch er hielt mich davon ab. »Bitte lass das!«
    »Aber wie kann ich dir danken? Ich stehe in deiner Schuld«, sagte ich demütig.
    Er zuckte mit den Achseln. Anscheinend gab er nicht viel darauf. »Du schuldest mir gar nichts«, erwiderte er. »Wir schulden niemandem etwas, nur Ihm.«
    Er stellte sich als Schams-e Tabrizi vor, und dann sagte er etwas sehr, sehr Merkwürdiges: »Manche Menschen beginnen ihr Leben mit einer wunderbar leuchtenden Aura, verlieren aber nach und nach alle Farbe und verblassen. Ein solcher Mensch scheinst du zu sein. Einst war deine Aura weißer als Lilien mit gelben und rosaroten Sprenkeln, doch im Lauf der Zeit bleichte sie aus. Jetzt ist sie farblos. Vermisst du denn deine früheren Farben nicht? Wünschst du dir nicht, mit deinem eigentlichen Wesen vereint zu sein?«
    Ich sah ihn an. Seine Worte hatten mich zutiefst ergriffen.
    »Deine Aura verlor ihren Glanz, weil du dir all die Jahre hindurch eingeredet hast, von innen und außen schmutzig zu sein.«
    »Ich bin schmutzig«, gab ich zurück und biss mir auf die Lippe. »Weißt du denn nicht, womit ich mein Geld verdiene?«
    »Ich möchte dir eine Geschichte erzählen«, sagte Schams. Und dann erzählte er Folgendes:
    Es kam einmal eine Hure an einem Straßenköter vorbei. Durstig und hilflos hechelte das Tier in der glühenden Sonne. Die Frau zog sofort ihren Schuh aus und füllte ihn am nächsten Brunnen mit Wasser für den Hund. Dann ging sie weiter. Am nächsten Tag begegnete sie einem Sufi, einem sehr weisen Mann. Kaum hatte er sie erblickt, küsste er ihr die Hände. Sie war erschüttert. Doch er erklärte ihr, dass ihr wegen der aufrichtigen Freundlichkeit gegenüber dem Hund alle Sünden auf der Stelle vergeben worden seien.
    Ich verstand, was Schams-e Tabrizi damit sagen wollte, konnte ihm aber nicht recht glauben. »Selbst wenn ich alle Hunde in Konya füttern würde, wäre das noch nicht genug, um meine Sünden zu tilgen.«
    »Das kannst du nicht wissen; nur Gott weiß das. Außerdem glaubst du doch hoffentlich nicht, dass irgendeiner der Männer, die dich aus der Moschee gedrängt haben, näher bei Gott ist als du!«
    Das überzeugte mich nicht. »Selbst wenn sie Gott nicht näher sind, wer sollte es ihnen sagen?«, wandte ich ein. »Sagst du es ihnen?«
    Der Derwisch schüttelte den Kopf. »Nein, das würde nichts nützen. Du musst es ihnen sagen.«
    »Meinst du, sie würden mir zuhören? Diese Männer hassen mich.«
    »Sie werden zuhören«, entgegnete er voller Überzeugung. »Denn ›sie‹ gibt es genauso wenig wie ›ich‹. Du darfst nur nie vergessen, dass im Universum alles und jeder miteinander verbunden ist. Wir sind nicht Hunderte und Tausende von unterschiedlichen Wesen. Wir sind alle eins.«
    Ich wartete auf eine Erklärung,

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