Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
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ELLA
NORTHAMPTON, 3. JUNI 2008
B each-Boys-Melodien drangen aus den offenen Autofenstern der vorbeifahrenden Studenten mit den frühsommerlich gebräunten Gesichtern. Ella betrachtete sie, ohne sich an dem Glück der jungen Leute erfreuen zu können, und ihre Gedanken kehrten zu den Ereignissen der letzten Tage zurück. Erst hatte sie Spirit tot in der Küche gefunden, und obwohl sie sich zuvor oft dazu angehalten hatte, auf diesen Augenblick vorbereitet zu sein, empfand sie jetzt so tiefe Trauer und fühlte sich so verletzlich und einsam, als wäre sie durch den Tod des Hundes ganz allein in die Welt geworfen worden. Dann hatte sie erfahren, dass Orly an Bulimie litt und dass fast alle in ihrer Klasse davon wussten. An Ella nagte das schlechte Gewissen, sie begann an der Beziehung zu ihrer jüngeren Tochter zu zweifeln und stellte ihre mütterlichen Fähigkeiten in Frage. Schuld gehörte zwar schon lange zu ihrem Gefühlsrepertoire, aber dass sie ihrer eigenen Mütterlichkeit nicht mehr traute, war neu.
In dieser Zeit begann sie täglich mehrere E-Mails mit Aziz Z. Zahara auszutauschen. Zwei, drei, manchmal sogar fünf. Sie schrieb ihm alles, und zu ihrer Überraschung antwortete er jedes Mal sofort. Woher er die Zeit nahm und wie er auf seinen Reisen durch abgelegene Gebiete überhaupt an eine Internetverbindung kam, um seine Mails lesen zu können, war Ella ein Rätsel. Doch schon nach kurzer Zeit war sie geradezu süchtig nach seinen Nachrichten und schaute bei jeder sich bietenden Gelegenheiten in ihren Posteingang – als Erstes gleich nach dem Aufstehen, dann wieder nach dem Frühstück, nach der Rückkehr vom Morgenspaziergang und während sie das Mittagessen kochte, bevor sie zum Einkaufen fuhr und Erledigungen machte – und sogar währenddessen, indem sie sich einfach in ein Internetcafé setzte. Während sie ihre Lieblingssendungen im Fernsehen ansah, im Fusion Cooking Club Tomaten schnitt, mit ihren Freundinnen telefonierte oder den Zwillingen zuhörte, wenn sie über die Schule und die Hausaufgaben schimpften, blieb der Laptop eingeschaltet und das Mailprogramm geöffnet. Wenn keine neuen Nachrichten von Aziz eingetroffen waren, las sie noch einmal die alten. Und immer wenn wieder eine Mail von ihm kam, musste sie unwillkürlich grinsen, halb vergnügt, halb verlegen gestimmt durch das, was da vor sich ging. Denn da ging etwas vor sich.
Der Mailwechsel mit Aziz führte schon bald dazu, dass Ella sich in gewisser Weise so fühlte, als bräche sie aus ihrem biederen, ruhigen Leben aus. Die Frau, auf deren Lebensleinwand langweilige Grau- und Brauntöne vorherrschten, verwandelte sich in eine Frau mit einer geheimen Farbe – einem hellen, verlockenden Rot. Sie fand es wundervoll.
Aziz war kein Mann für Smalltalk. Menschen, die nicht ihr Herz zum wichtigsten Leitstern im Leben gemacht hatten, die sich der Liebe nicht öffnen und ihrem Weg nicht folgen konnten, so wie die Sonnenblume der Sonne folgt, waren in seinen Augen gar nicht wirklich am Leben. (Ella fragte sich, ob auch sie vielleicht auf seiner Liste der unbeseelten Objekte gelandet war.) Aziz schrieb nicht über das Wetter oder über den letzten Film, den er sich angesehen hatte. Er schrieb über andere Dinge, tiefgründigere, über das Leben und den Tod beispielsweise, und vor allem über die Liebe. Ella war es nicht gewohnt, ihre Empfindungen in Worte zu fassen, noch dazu einem Fremden gegenüber, aber vielleicht war gerade ein Fremder nötig, damit eine Frau wie sie ihr Herz ausschütten konnte.
Sollte ein bisschen Schäkern mit dabei sein, dachte Ella, dann tat es beiden gut. Sie saßen in weit entfernten Ecken des unendlichen Internetlabyrinths und konnten von dort aus ganz harmlos miteinander flirten. Durch den Austausch von Mails, so hoffte sie, würde sie etwas von dem Selbstwertgefühl zurückgewinnen, das ihr in ihrer Ehe abhandengekommen war. Aziz gehörte zu der seltenen Sorte Mann, den eine Frau lieben konnte, ohne ihre Selbstachtung zu verlieren. Und vielleicht war es ja auch ihm angenehm, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit einer nicht mehr jungen, aber auch noch nicht alten Amerikanerin zu stehen. Auf der einen Seite verstärkte das Internet die Offline-Verhaltensweisen, lockerte sie andererseits aber auch und stellte deshalb eine gute Möglichkeit dar, ohne schlechtes Gewissen ein wenig anzubändeln (denn noch mehr schlechtes Gewissen hätte sie wirklich nicht brauchen können) und ohne Risiko Abenteuer zu erleben (von
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